Die „Alte Utting“ ist in Mün­chen wie­der im Betrieb: alter­na­tiv, frech und erfolgreich

Das Schiff erin­nert mich an den ver­rück­ten Film „Fitz­car­raldo“ von Wer­ner Her­zog, in dem ein Damp­fer in den Anden wegen einer Oper über einen Berg geschleppt wird. Biegt man von der U‑Bahnstation Imp­ler­strasse (U3 und U6) kom­mend in die Lager­haus­strasse ein, so ragt die ehe­ma­lige „Utting“ hoch auf der Send­lin­ger Brü­cke über Stras­sen­zü­gen, Gleis­an­la­gen und Indus­trie­bra­chen. Auch das wirkt ver­rückt, unwirk­lich und fremd. Auf gross­zü­gi­gen Trep­pen errei­che ich in schwin­del­erre­gen­der Höhe, 20 m über der Strasse, das 2016 aus­ran­gierte Ammer­see-Schiff. Ich wähle dann nicht den Weg über die Bug­par­tie, son­dern durch eine eigen­ar­tig anmu­tende Türe, die mich direkt ins erste Schott des Unter­decks führt. Diese neu geschaf­fene Öff­nung dient heute einem Flucht­weg. Von Anfang an fas­zi­niert mich diese Neu­nut­zung: im Maschi­nen­raum sind viele Asse­coirs ste­hen geblie­ben, so der Elek­tro­kas­ten, die Lenz­pumpe, die Werk­bank des Maschi­nis­ten und vie­les mehr. Dazwi­schen ste­hen Tische und Stühle, bereit für das Publi­kum bei Kulturveranstaltungen.

Am 26. Februar 2017 hies­sen zwei rie­sige Krane zuerst die Schale und dann die Auf­bau­ten auf die nicht mehr benö­tigte Eisen­bahn­brü­cke. Nach genau 17 Mona­ten steigt am 26. Juli 2018 das Eröff­nungs­fest. Der fan­tas­ti­sche Som­mer bringt Mas­sen zur „Alten Utting“, oft sind die 400 Plätze an einem Abend mehr­fach belegt. Daniel Hahn, der Initi­ant des Pro­jek­tes: „Es war ein Traum­start. Aber – wir wur­den ins kalte Was­ser gewor­fen. Mit einem sol­chen Erfolg konnte nie­mand rech­nen, es war für uns eine immense, logis­ti­sche Her­aus­for­de­rung.“ Noch heute, drei Monate nach dem Start, muss der Gas­tro- und Kul­tur­be­trieb lau­fend ange­passt wer­den. Ich treffe Daniel Hahn an, als er gerade eine Regen­pla­che im Umfeld des Schif­fes mon­tiert. Dazwi­schen kom­men Mit­ar­bei­tende und wol­len einen Rat von ihm, um ein tech­ni­sches Pro­blem zu lösen.

Die­ses Gastro‑, Kul­tur- und Jugend­pro­jekt (wo auch Gruf­tis gern und oft gese­hen wer­den) reiht sich ein in eine Serie aus­ge­fal­le­ner und ori­gi­nel­ler Ideen einer Hand­voll jun­ger Leute, die mit Tat­kraft und Krea­ti­vi­tät man­gelnde Kul­tur­orte in Mün­chen nicht bekla­gen son­dern behe­ben. Daniel Hahn: „Es geht auch bei der ‘Alten Utting’ darum, Raum und Platt­for­men zu schaf­fen für Begeg­nungs­stät­ten der Kunst und Kul­tur.“ Erste Erfah­run­gen konnte Hahn nach der Schul­aus­bil­dung im Pathos Trans­port Thea­ter Mün­chen machen. 2012 grün­det er zusam­men mit Gleich­ge­sinn­ten den „Wannda Cir­cus eV Mün­chen“, 2013 den Wannda Kul­tur­ver­ein. Die Kul­tur­stätte «Bahn­wär­ter Thiel» wird 2015 in einem abge­stell­ten U‑Bahnwagen auf dem Gelände der ehe­ma­li­gen Gross­vieh­halle ins Leben geru­fen. Das Bau­wa­gen­café Gans am Was­ser im West­park Mün­chens eröff­net 2016, 2017 folgt der Kul­tur­ki­osk Gie­sing, 2018 nun die „Alte Utting“. Immer wie­der tau­chen bei all die­sen Pro­jek­ten die Namen der drei Brü­der Julian, Daniel und Lau­rin Hahn auf – jeder von ihnen drei noch nicht 30. Der „Motor“ Daniel ist heute einer der bekann­tes­ten Kul­tur­ver­an­stal­ter Mün­chens. Unglaublich.

Ich wollte von ihm wis­sen, wel­che Her­aus­for­de­rung bei der „Utting“ die grösste war. Spon­tan ant­wor­tet er: „Alles.“ Allein für die Treppe hin­auf zum Schiff zu pla­nen, sagt Daniel, muss­ten 25 ver­schie­dene städ­ti­sche Abtei­lun­gen um Bewil­li­gun­gen ange­fragt wer­den. „Wei­ter waren die Regu­la­tive, um ein Restau­rant zu füh­ren, zahl­reich. Ein sehr klei­nes Bud­get machte es auch nicht ein­fa­cher und mit den vie­len Hand­wer­kern zu koope­rie­ren war eine Her­ku­les­auf­gabe. Zum Glück konn­ten wir viel selbst machen.“ Büro­kra­ti­sche Hür­den und Geneh­mi­gungs­ver­fah­ren nimmt er in Kauf, um seine Visio­nen umset­zen zu kön­nen. „Viele haben gefragt, warum wir das Schiff nicht ein­fach auf die Isar gestellt haben. Nun gerade der unge­wöhn­li­che Stand­ort macht es doch zu etwas Beson­de­rem,“ wäh­rend seine Augen fun­keln. Seine ers­ten Ein­rü­cke? Daniel Hahn: „Traum­haft. Viele Men­schen sind fas­zi­niert vom Schiff und was wir dar­aus gemacht haben: Fami­lien, Nau­ti­ker, Fans, junge Leute, Quar­tier­be­woh­ner – sie sind an Bord glück­lich. Die Mühen haben sich gelohnt.“

Das bau­li­che Kon­zept ist durch­dacht: das ganze Schiff steht aus­ser dem Steu­er­aus, wo eines der Buf­fets unter­ge­bracht ist, dem Publi­kum zur Ver­fü­gung. Infra­struk­tur­räume sind aus­ser­halb des Schif­fes plat­ziert, so auch wei­tere Bars, Ess­stände, Küche, Lager. Das Son­nen­deck und das gedeckte Ober­deck strah­len mit der Ori­gi­nal­mö­blie­rung ein authen­ti­sches Schiffs­fee­ling aus und statt aufs Was­ser sieht man auf einen Güter­bahn­hof, auf Stras­sen­züge, Back­stein­ge­bäude und auf die Gross­markt­halle hinunter.Einer mei­ner Lieb­lings­plätze sind die Tische hin­ter der gros­sen Schiffs­schraube unter dem Kiel – bei Regen im Tro­cke­nen und mit ganz unge­wöhn­li­cher (Fisch-) Per­spek­tive auf das Schiff.

Ein Tag spä­ter bringt mich die S‑Bahn in 60 Minu­ten nach Herr­sching zur neuen „Utting“. Es ist ein kom­plet­ter Sze­nen­wech­sel. Der Neu­bau aus dem Hause Lux macht vor allem aus­sen einen nost­al­gisch-schif­fi­gen Ein­druck, ganz dem Flair der Ammer­see-Flotte gewid­met. Innen aber ist vom «Stil der 1930-er Jahre», so der Pro­spekt der baye­ri­schen Seen­schiff­fahrt, nicht viel zu spü­ren. Ein ein­zi­ger Raum mit einem Salon für 130 Essens­plätze, Vel­o­ab­stell­flä­chen, zwei Kas­sen und Trep­pen­haus zum Ober­deck wir­ken irri­tie­rend unstruk­tu­riert und wenig nostalgisch.

Trotz­dem ist eine Fahrt auf dem Ammer­see loh­nens­wert. Diese Schiff­fahrt ver­fügt über eine homo­gene Schiffs­flotte, die sich sehr wohl von allen übri­gen Betrie­ben abhebt. Die USPs ist eine moderne Flotte nach his­to­ri­schen Vor­bil­dern um- oder neu­ge­baut, wovon zwei der vier Schiffe mit Schau­fel­rä­dern ange­trie­ben wer­den. Die bei­den Rad­mo­tor­schiffe Dies­sen (erbaut 1908, umge­baut 2005/06) und Herr­sching (neu erbaut 2002 mit ori­gi­nel­len Raum­auf­tei­lun­gen) über­zeu­gen durch ihre hoch­wer­tige Mate­ria­li­sie­rung, wo durch­aus die Liebe zum Detail gepflegt wurde. Die andern zwei Schiffe sind eben­falls im Retro­stil (z.B. mit Kamin) erbaut: die „Augs­burg“ 2008 und die „Utting“ hatte ihre Jung­fern­fahrt als 34. Schif­fes der ewi­gen Ammer­see-Liste am 7. Juli 2017.

Irri­ta­tion in Mün­chen: Das Zwei­deck­schiff Utting scheint über die Eisen­bahn­brü­cke zu fahren.

Der ehe­ma­lige Maschi­nen­raum dient heute als Kulisse für Kleinkunstvorstellungen.

Daniel Hahn und sein Team hat etwas Unmög­li­ches mög­lich gemacht: Chapeau.

Gemüt­li­che Runde auf dem vor­de­ren Ober­deck mit Blick auf den Send­lin­ger Güterbahnhof.

Jeden Tag gut besucht: die „Utting“ I hat ihr schif­fi­ges Design behal­ten können.

Der Moment, wo die „Utting“ 2017 den Ammer­see ver­lässt Rich­tung Lan­des­haupt­stadt (Archiv­auf­nahme).

Die neue „Utting“ im Por­trait und Herbst­ne­bel: modern mit alten Stil­ele­men­ten in der Aus­sen­an­sicht und …

… eher kühl-kom­pro­miss­haft im Innendesign.

Text und Bil­der H. Amstad (aus­ser Archiv­auf­nahme pd)

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Bemer­kun­gen

Auch im Win­ter geöff­net: Mon­tag bis Mitt­woch: 17.00 – 00.00 Uhr, Don­ners­tag: 17.00 – 01.00 Uhr, Frei­tag: 16.00 – 02.00 Uhr, Sams­tag: 10.00 – 02.00 Uhr, Sonn­tag: 10.00 – 22.00 Uhr

Tech­ni­sche Daten

Utting I, 1950, Deg­gen­dor­fer Werft, L 36,4 m, B 7,5 m, T 1.54 m, 248 kW, 400 pax

Utting II, 2017, Lux-Werft Mon­dorf, L 50,8 m, B 9,6 m, T ? m, 500 pax

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