Reisebericht: MS Michail Svetlov erreicht auf der Lena das Eismeer (Teil 3)
Wir sind weiterhin nordwärts unterwegs, auf einem Fluss dieser Erde, dessen Wasser man immer noch bedenkenlos trinken kann. Die faszinierende Abwechslung der Ufergestaltung, die besondere Lebenskultur ihrer Bewohner, die seltene Flora und Fauna und drei exotisch wirkende Fluss-Hotelschiffe aus den Fünfziger- und Achtzigerjahren vermögen selbst abgeklärte Globetrotter zu begeistern.
Zwei (unfreiwillige) Flusstage zum Entschleunigen
Am 7. Reisetag (25. Juli) steht ein Flusstag auf dem Programm. Langweilig? Mitnichten! Bereits um vier Uhr in der Früh wecken mich Sonnenstrahlen in der Kabine. Eine Schiff-Wanderung auf alle Decks und Galerien* führt mir unvergessliche Morgenaufnahmen vor die Kamera. Eine Stunde später dringt aggressiver Rauchgeruch in die Kabine; für die nächsten sechs Stunden durchfährt unser Schiff die Rauchwolke eines nahen Waldbrandes. Noch wissen wir nicht, dass uns auf dieser Reise solche Störungen noch einige Male beschäftigen werden. Um es vorweg zu nehmen, am Ende der Reise ist in dieser Gegend eine Fläche von 41 000 km2 – das entspricht der Fläche der Schweiz – abgebrannt. Heute betrachten wir auf der nordgehenden Route die grünen Ufer der Tundra; sieben Tage später werden wir auf der Südroute schwarze Baumstämme sehen…
Diese Gegend ist besonders reich an Bodenschätzen. Ich kann beobachten, wie Bagger das Erdreich am Ufer abtragen und die Kohle zum Vorschein kommt – bereit zum Abtransport für die lokalen Bedürfnisse. Bald darauf wechselt das Bild erneut. Eindrückliche Fluss-Erosionen geben jetzt hohe, steil abfallende Ufer frei und damit weitere kostbarste Bodenschätze wie Eisen, Zink, Bauxit für die Aluminium-Gewinnung, Gold, auch Uran und Diamanten. Ein Glück, dass Sacha (Jakutien), woher man auch schaut, am Ende der Welt liegt… Wie lange noch? Die Jakuten fürchten die Zukunft mehr als die Aufarbeitung der Gulag-Geschichte Stalins und der Schergen politischer Systeme. Erste Ansätze der Ausbeutung sind aber erkennbar: Ein russischer Konzern fördert pro Jahr Diamanten im Wert von mehr als 2,5 Milliarden Dollar aus der Erde – mehr als in Südafrika.
Am 8. Reisetag (Freitag 26.7.) ist vorgesehen Schigansk anzufahren. Da der Hafen für unseren Schiffstiefgang von 1,6 m zu flach ist, nimmt jeweils eine lokale Fähre die Fahrgäste auf dem offenen Fluss an Bord und bringt sie ans Ufer. Doch heute ist keine Fähre da und so gibt es unfreiwillig einen zweiten Flusstag. Der Autor Martin Dziersk** weist auf ein weniger romantisches Thema dieser Gegend hin: „Viele Dörfer hier stammen aus einer Zeit, an die sich die Einwohner nur ungern erinnern, wie in Schigansk zum Beispiel, auf halbem Weg zwischen Jakutsk und dem Lena-Delta. Schon im 18. Jahrhundert, unter den russischen Zaren, war das Gebiet ein Verbannungsort für aufsässige Leibeigene, ein Gefängnis ohne Tore; in der Stalinzeit aber wurde es zum Synonym für Angst und Schrecken, für Tod und Vernichtung. Hunderttausende wurden von den Sowjets zur Zwangsarbeit in die «Gulags» hierher deportiert – für die meisten von ihnen war das gleichbedeutend mit einem Todesurteil.“
Arktisches Wetter in der Tundra
Einen Tag später erleben wir bei einem zauberhaften Zwischenstopp in Kjusjur (sprich Küsür), einer 2200 Seelen-Siedlung schon weit nördlich des Polarkreises, eine besonders gastfreundliche Atmosphäre mit einem Auftritt der ortsansässigen Folkloregruppe. Der Ort fällt durch eine neue Schule und ein neues Blockheizwerk auf. Während dem Landgang bleibt genügend Zeit, um auf einer Wanderung die Gegend zu erkunden. Auf dem Hinweg benutze ich die Hauptstrasse; sie besteht aus einem 1,5 Meter breiten und rund zwei Kilometer langen Brettersteg übers Land. Den Rückweg wähle ich über den mehrere Hundert Meter breiten Lena-Strand. Auffallend sind metertiefe Furchungen am oberen Rand, die vorbeifliessende Eisschollen im Juni in die Landschaft gekerbt haben. Die Reiseteilnehmerin Barbara Affolter weiss aus Reiseliteratur zu berichten, dass Kjusjur etwas Besonderes sei, „weil sich heute seine Einwohner aus Menschen fast aller Volksgruppen Jakutiens zusammensetzt.“
Unterhalb Kjusjurs zieht die Lena mehrere scharfe Mäander und zwängt sich durch einen schmalen, 160 km langen Felskorridor, das sogenannte Lena-Rohr. Für die einen ist es der landschaftliche Höhepunkt der Reise, für andere waren die Lena-Felsen eindrücklicher. Vielleicht spielt auch das Wetter eine Rolle: Im Süden hatten wir Badewetter und wolkenlosen Himmel, hier im Norden, nur wenige Tage später, bissigen Nordwind und Staffeln von Schauern, die über die Lena ziehen. Backbordseits sind die Ausläufer der Tschekanow-Gebirgskette zu erkennen, steuerbordseits reichen im fahlen Abendlicht die Chara-Ulach-Berge mehrere Hundert Meter hoch an unser Ufer heran. Schwierig, jetzt vor Mitternacht ins Bett zu gehen: düstere Granitwände, regenbogenüberwölbte Marmorklippen, grüne Taleinschnitte – unglaubliche Bilder. Auf der andern Uferseite peitscht ein Sandsturm die Kumach-Surt-Dünen südwärts.
Sonntag, 28.7.2019 – Tiksi ohne uns
In der Nacht zum 10. Reisetag erreichen wir den nördlichsten Punkt unserer Reise, die Insel Stolb. Die Wassertemperatur hat sich während der siebentägigen Talfahrt von den Lenafelsen bis hierher kontinuierlich von 20°C auf 10°C abgekühlt, die Lufttemperatur ist von 30° auf 8°C gesunken. Die Baumgrenze befindet sich nun auf null Meter über Meer. Reiseteilnehmer Thomas Fähndrich steht bei der Insel Stolb um zwei Uhr nachts mit andern zusammen an der Reling und geniesst die einmalige Stimmung: „Eben ist die Sonne aufgegangen. Die Insel erstrahlt im Morgenlicht. Gleichzeitig fällt erstmals auf unserer Fahrt Regen. Der Regenbogen markiert just die Einfahrt ins Lenadelta.“
Das Delta ist das zweitgrösste der Welt. Die Fläche der Schweiz hätte spielend Platz. Der Strom entlässt seine auf der langen Reise durch knapp 300 Nebenflüsse gespeisten Wassermassen in die Laptev-See, ein Randmeer des Nordpolarmeeres. Nach dem Lena-Rohr spült der Fluss pro Jahr 500 Kubikkilometer Wasser und rund 15 Millionen Tonnen Schwemmsand ins Delta. So grosse Zahlen kann man sich schwer vorstellen. Vielleicht sind die Angaben pro Sekunde etwas einfacher: 16 000 m3 Wasser und ein halber Kubikmeter Sand – in jeder Sekunde. Das Delta gilt als eines der letzten unberührten Naturparadiese der Erde und als Lebensraum bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Auch historisch ist das Delta interessant: Hier begann vor 100 Jahren die Entdeckung der Arktis; hier liess sich der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen mit seinem Schiff Fram einfrieren, um die Eisdrift am Nordpol nachzuweisen.
Vor drei Tagen hat hier ein Sturm getobt, der unsere Anlegeplattform in Tiksi, unserem Wendepunkt der Reise, auf Grund laufen liess und sie zusätzlich seitlich verschob. Nachdem unser Kapitän nicht anlegen kann, ankert er. Die Hoffnung, dass die Anlegestelle innert nützlicher Frist repariert werden kann, schwindet. Nach vier Stunden Wartezeit geht die Fahrt unverrichteter Dinge weiter, jetzt stromaufwärts zurück in Richtung Jakutzk. Vor allem die Russen, die Tiksi als das Ziel ihrer Reise sehen, sind enttäuscht und machen ihrem Ärger beim Kapitän Luft. Für uns aber ist die Reise das Ziel, zumal ein Nieselregen und wenig anmutende Beschreibungen über Tiksi uns nicht motivieren, diesen „depressiven“ Ort zu besuchen. „Tiksi wurde in der Blütezeit des Sozialismus erbaut und ist bis heute Militärzone***. Die russischen Fahrgäste an Bord mussten, wie ihr Schweizer, für Tiksi auch ein Visum beantragen. Seit Ende des Kalten Krieges 1991 ist Tiksi aufgegeben und vergessen, eine Geisterstadt wie aus einem schlechten Roman“, erklärt uns die Reiseleiterin Irina Stuck.
Technische Bordführung mit Brückenbesuch
Kapitän Bankov Nikolaj steuert um drei in der Früh die Fischerinsel Tit-Ary an und ankert vor ihr, bis er vier Stunden später unser Schiff auf die ausgedehnte Sandbank des Ufers fährt. Hier hat das Schiff noch nie angelegt, auch für die Crew ist das ein Novum. Cruisemanagerin Larisa: „Das wird einen authentischen Einblick in das Leben der Lena-Fischer geben.“ Vorher aber ist Routinearbeit angesagt. Wie bereits in früheren Berichten erwähnt, sind weder die Ufer gefestigt noch kennt man, abgesehen von wenigen Ausnahmen, Piers. Um zu landen, setzt die Crew etwa 150 m vom Ufer entfernt den Anker. Dann fährt der Kapitän das Schiff zum Ufer, um es dort mit dem Bug auf Grund laufen zu lassen. Die Ankerkette rasselt. Mit 1,6 Metern Tiefgang bleibt dann die „Michail Svetlov“ im Abstand von 5 bis 20 Meter vom Ufer im Sand, Kies oder Schlick stecken. Der Anker wird gesichert.
Nun springen zwei Matrosen von der Reling. Bei eisigem Wasser sind sie mit Gummihosen angezogen, die bis zur Brust reichen. Sie waten ans Ufer und empfangen die Wurfleine, die ein weiterer Kollege ihnen zuwirft, um zwei schwere Taue vom Schiff ans Land zu ziehen. Im Süden der Lena dienen jeweils Bäume als Anbindevorrichtung, zusammen mit dem Anker und der Grundberührung eine „saubere“ Vierpunktsicherung, die auch einen Sturm aushält. Aber hier in der Tundra und Arktis gibt es keine Bäume. So dient mal ein ausgemusterter Panzer oder ein Trax als Festhalteanker oder ein herbeigefahrener LKW gräbt sich mit zwei angespannten Seilen in den Sand.
Alexej, der Besitzer einer 10 km langen Inselküste und Leiter einer Fischereiproduktion von Tit-Ary, fährt mit einem schweren Gefährt ans Ufer, an dem dann die „Michail Svetlov“ festgemacht wird. Er führt uns auf dem Landgang übers Gelände und in einen seiner Eiskeller. Sie dienen das ganze Jahr als „Kühlschrank“ für seine Tonnen von gefangenem Fisch. Alexej: „An einem Spitzentag haben wir 7,1 Tonnen Ertrag.“ Im Winter werden die Fische per LKW auf der zugefroren Lena nach Jakutsk gebracht. Ein spontanes Fischtasting rundet den eindrücklichen Besuch auf der im Sommer von 17 Personen bewohnten Insel ab.
Am Nachmittag geniesst die Reisegruppe der Schiffs-Agentur einen Brückenbesuch mit Fragestunde mit dem Kapitän Bankov Nikolaj. Die Lena sei einer der am schwierigsten zu befahrenden Flüsse, erklärt der Kapitän: „Die eigentliche Fahrrinne ist zum Teil sehr schmal und flach und ändert sich ständig. Hier haben wir gerade eineinhalb Meter Wasser unter dem Kiel. Nach jeder Fahrt muss ich im Schifffahrtsamt in Jakutsk meine Flusskarte aktualisieren.“ Ein Blick auf die Karte zeigt tatsächlich viele überklebte Stellen und Tipp-ex-Korrekturen, die während eines Sommers angebracht werden.
Dieser Ersatzhalt in Tit-Ary hat eine weitere angenehme Konsequenz: Statt nachts können wir nun am 11. Reisetag (Montag, 29. Juli) tagsüber durch das Lena-Rohr fahren. Wobei mit „nachts“ nur die Schlafenszeit gemeint ist und nicht die Dunkelheit. Denn auch Ende Juli wird es in dieser Gegend, die 100 km nördlicher als das norwegische Nordkap liegt, nie dunkel. Reiseteilnehmerin Barbara Benz: „Das Lena-Rohr ist für mich der faszinierendste Flussabschnitt unserer Reise. Es gibt Stellen, wo Gesteinsformationen wie Burgen aus den oft vegetationslosen Gebirgen emporsteigen.“
Wir besuchen den Maschinenraum. Acht Mann arbeiten hier zu zweit oder dritt in Schichten zu je vier Stunden. Drei originale Dieselaggregate zu je 200 kW versorgen das Schiff mit Strom. Die drei ursprünglichen Hauptmaschinen sind seit 2017 durch umweltfreundlichere Volvo Penta-Motoren zu je 500 kW ersetzt. Eine Kläranlage säubert das Abwasser auf der ersten Stufe, bevor es das Schiff in Richtung Lena verlässt. Der Abfall wird verbrannt, die Wärme genutzt. Der Dieseltank fasst 63 000 Liter, was für unsere 14-tägige Flussreise reicht. Wir verbrauchen auf unserer Reise 45 000 Liter.
Reich an Bodenschätzen: Chance und grosses Risiko für Sachas Lebenswelt
Rechtsufrige Impression des Lena-Rohrs, fotografiert mit drei jakutischen Frauen, die an Bord der „Michail Svetlov“ Kurse geben.
Sandsturm im Abendlicht auf der linksufrigen Seite des Lena-Rohres
Unschätzbares Juwel, Natur pur: das Lena-Delta. Es gibt drei Fahrrinnen in die Leptovsee: ganz rechts hinunter der Arm nach Tiksi, ein Arm nach Osten und einer nach Nordwesten sind schiffbar.
Bereits ist das Schiff gesichert, wenn die Matrosen die Gangway für uns Passagiere über die letzten Wasser-Meter mit Brücken bauen.
Der Landgang kann beginnen, hier in Tit-Ary, während Matrosen im kalten Wasser stehend die Gangway sichern.
Kapitän Bankov Nikolaj erklärt uns die Tücken des Flusses im Steuerhaus der „Michail Svetlov“, übersetzt durch Irina Struck.
Im Maschinenraum sorgen drei Volvo Penta-Motoren für eine sichere Fahrt.
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Hinweise
*) Dem Fahrgast stehen im Verhältnis zu den üblichen Flusskreuzfahrtschiffen überdurchschnittlich viele begehbare Decksflächen zur Verfügung. Im kommunistischen System war der öffentliche Zugang wichtiger als eine möglichst optimale Privatsphäre. Weil die Lena-Schiffe, wie im Teil 1 beschrieben, nahezu im Originalzustand verkehren, wurden die Schiffe nicht mit den heute in Mode gekommenen Absperrungen der seitlichen Galerien umgebaut.
***) Tiksi war zu Sowjetzeiten ein wichtiger Stützpunkt zur Sicherung des nördlichen Seeweges. Dieser Seeweg führt entlang der Nordküste Russlands, von Europa bis zum Pazifik. Die Problematik des nördlichen Seeweges wird erst auf einer Karte deutlich: Das Meer vor der nordsibirischen Küste ist nämlich im Winter von Küsteneis bedeckt. Den nördlichen Seeweg ganzjährig offen zu halten, war zu Sowjetzeiten von grosser wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung. Heute hat Tiksi knapp 6 000 Einwohner, um 1990 waren es noch 15 000.
Quellen
**)
Weiter im Text
Reisebericht Teil 1 Link
Reisebericht Teil 2 Link
Reisebericht Teil 4 Link
Hallo zusammen, ein sehr interessanter Bericht. Wir haben diese Reise im August/September 2019 gemacht. Wir waren uns sind immer noch beeindruckt.
Wann kann man den 4.Teil des Berichtes lesen? Wir freuen uns schon darauf. Vielen Dank.