Apé­ro­fahr­ten 2023: ein Erzähl­fes­ti­val auf der Klein­bühne von MS Schwan

Die 15. Sai­son des «Kul­tur­schif­fes» Schwan ist geprägt durch zwei Zuger Kul­tur­per­sön­lich­kei­ten, die sich ganz dem gespro­che­nen und geschrie­be­nen Wort ver­schrie­ben haben – dies im wört­li­chen Sinn.

Maria Greco

Einen Tag vor dem Beginn des eid­ge­nös­si­schen Jod­ler­fes­tes in Zug springt Alp­horn­blä­ser René Sim­men als Schiffs­füh­rer für die vor­ge­se­hene, aber kurz davor ver­un­fallte, Schiffs­füh­re­rin ein und steu­ert die «Schwan» zu unse­rem ers­ten Halt: Badi Zug. Den Kurs bestimmt wie immer die anwe­sende Zuger Kul­tur­per­sön­lich­keit. Heute, am 15. Juni 2023, ist dies Maria Greco. Die Erzäh­le­rin, Autorin und Orga­ni­sa­to­rin von Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen hat ita­lie­ni­sche Eltern, die in der Hoch­kon­junk­tur­zeit der Sech­zi­ger­jahre in die Schweiz ein­wan­der­ten. «Da meine Eltern beide berufs­tä­tig waren, ver­brachte ich fünf Jahre mei­ner Kind­heit werk­tags bei Pfle­ge­el­tern. Der Pfle­ge­va­ter war dann mit mir viel im Zuger Strand­bad, wo ich meine Lei­den­schaft fürs Was­ser ent­deckte und auch aus­le­ben konnte», begrün­det Maria den ers­ten Schiffs­stopp. «Ich bin noch heute viel hier, aller­dings meist vor dem Ein­tref­fen der gros­sen Menschenmassen.»

Vor Ober­wil schweift unser Blick nun auf die von der Abend­sonne beleuchte St. Niko­laus-Kapelle, wo Maria Greco uns ein ers­tes Müs­ter­chen ihrer Erzähl­kunst vor­trägt. «Wo de Weih­bi­schof vo Kon­schtanz, de Tho­mas Weld­ner, am 17. April 1469, die chlii Chap­pele z’Oberwil z’Ehr vom Hei­lige Bischof Niko­laus gsäg­net het, händ die fromme Ober­wi­ler Buure mäch­tig Freud gha. De langi Chi­le­wäg uf Zug abe isch am Wärch­tig doch z’wiit gsii. Nume eine het sich a däm schöne Chi­leli ned chönne freue, de Tüü­fel. Amene schöne Mai­morge isch de Tüü­fel vom Gäiss­bode her zum Wald­rand häre cho und het mit sim gfürchige Gsicht zu däm Chi­leli abe gluegt. Gschüü­met het gar vor Wuet und het gflue­chet: ‘Ober­wi­ler! Üchi Chap­pele sellid ihr nümme län­ger ha. Mit däm gwal­tige Fels­block will ich si i Grund und Bode stampfe!’

Mit dene wüeschte Wort het er mäch­tige Stei gnoo und de höch ufe gstämmt und mit eme wilde Ghüül de ufs Chap­peli welle abe­rüehre. Im gli­ich­lige Momänt het us däm chline Chi­le­türmli s’Glöggli glüü­tet. De Ton vo dere Glogge het däm Böse die ganzi Chraft gnoo und no wüe­ti­ger, als er suscht scho gsii isch, het de Tüü­fel de Stei mit sinere ganze Chraft uf de Bode grüehrt, de isch grad tüüf is Ärdri­ich ine gschloffe. No hüt liit de Tüü­fels­s­tei im Wald. Und wenn mer de Stei gnau aaluegt, gseht mer immer no d’Fingerabdrück vom Tüü­fel druf.»

In gros­sem Bogen wen­den wir uns wie­der Zug zu und machen Halt mit Blick auf die St. Micha­els-Kir­che. Auch hier weiss Greco eine pas­sende Sage, die erklärt, warum deren Vor­gän­ger­kir­che, die wohl weit ins erste Jahr­tau­send zurück reichte, etwas ober­halb beim Fried­hof St. Michael neben dem Bein­haus stand. Für Orts­un­kun­dige sei erwähnt, dass die­ser Stand­ort weit aus­ser­halb der dama­li­gen Stadt Zug lag. «Die Zuger plan­ten den Bau die­ser Kir­che am dafür vor­ge­se­he­nen Ort neben dem Pul­ver­turm, also mit­ten in der Stadt. Doch eines Mor­gens waren Holz­bal­ken und sämt­li­che Steine nicht mehr auf dem Bau­platz. Sie fan­den all die Bau­ma­te­ria­lien weit oben gegen den Zuger­berg zu, beim Bein­haus des Fried­ho­fes. Kaum war das Mate­rial wie­der her­un­ter­ge­schafft, war die­ses am andern Mor­gen wie­der oben beim Bein­haus. So ent­schlos­sen sich die Zuger, diese Kir­che ober­halb von Zug zu bauen und dann war der Spuk vorbei».

Die heute 58-jäh­rige Kul­tur­frau machte ursprüng­lich die Aus­bil­dung als Detail­han­dels­fach­frau, ent­deckte aber schnell ihre Bega­bung zum Erzäh­len. Sie war vor 35 Jah­ren in der Mar­ke­ting-Abtei­lung bei Radio Suns­hine tätig und durfte dabei zahl­rei­che Werbe-Spots pro­du­zie­ren. Das führte sie zur Schau­spie­le­rin Heidi Dig­gel­mann, wo sie eine Atem‑, Simm- und Sprech­aus­bil­dung absol­vierte. Bereits seit 22 Jah­ren orga­ni­siert und ver­an­stal­tet sie den schrä­gen Mitt­woch, «die inzwi­schen älteste offene Bühne der Schweiz», wie Maria ergänzt. «Dies ist ein spon­ta­nes Varieté mit unkla­rem Aus­gang, eine offene Bühne für Pro­fis, Anfän­ger und schräge Vögel.» Der heu­tige (Don­ners­tag-) Abend, die Lage des MS Schwan und auch die Erzähl­kunst von Maria Greco waren aber alles andere als schräg.

Tho­mas Hürlimann

«Als Bub wollte ich Dampf­schiff-Seil­an­bin­der wer­den», ver­rät der inter­na­tio­nal gefei­erte Schrift­stel­ler Tho­mas Hür­li­mann sei­nen Berufs­wunsch beim ers­ten Halt vor Ders­bach. Dies zum Ent­set­zen sei­ner Mut­ter, die damals meinte: «Kapi­tän wäre doch auch etwas…» Seine Bezie­hung zum Zuger­see ist innig: «Es ist ein Lie­bes­ver­hält­nis, das mein Leben lang bleibt», nicht frei auch von ehr­fürch­ti­gen Erin­ne­run­gen. Sein Vater Hans Hür­li­mann zog 1954 von Walch­wil nach Zug, zuerst an die Faden­strasse, spä­ter mit sei­ner Fami­lie an den Äge­ri­saum­weg. Um vor den Gefah­ren des Sees zu war­nen, ermahn­ten die Eltern ihre Kin­der und somit auch Tho­mas: «Geht nie ins Was­ser, sonst holt euch der See­müng­gel, der bereits zwei Mal eine ganze Häu­ser­zeile in Zug ‘geholt’ hat1.» Der See­müng­gel war ein Unge­heuer, das den See von Zeit zu Zeit zum Toben und Kochen brachte. Noch heute sind die Stürme aus Süd­west bei den See­leu­ten gefürch­tet; ein sol­cher ver­senkte am 6. August 2013 gar das heu­tige Apéro-Schiff Schwan. Dar­auf liest Tho­mas Hür­li­mann die ergrei­fende Geschichte ihres Dienst­mäd­chens Ruthli, das im See ertrun­ken ist. Diese Geschichte gibt Ein­bli­cke in das gesell­schaft­li­che Leben einer gut situ­ier­ten und ein­fluss­rei­chen Fami­lie. Sein Vater Hans war Poli­ti­ker, lange Zeit Regie­rungs­rat, Stän­de­rat und von 1973 bis 1982 Bun­des­rat der Eidgenossenschaft.

Der zweite Halt ist vor dem Schloss Buo­nas, wo Tho­mas Hür­li­mann zum Fabu­lie­rer wird. Er beob­ach­tete in den 1990er-Jah­ren, dass just in der Zeit, als Sal­man Rush­die2 abtau­chen musste, das Bewa­chungs­per­so­nal im Schloss Buo­nas auf­fäl­lig ver­stärkt wurde. Dafür gab es nur eine plau­si­ble Erklä­rung: «Rush­die hatte dort Schutz gesucht». Die schöne Sicht auf das natur­nahe Ufer zwi­schen Buo­nas und Cham erin­nert Hür­li­mann daran, dass hier eine Auto­bahn geplant war: «In Walch­wil gab es zwei ein­fluss­rei­che Fami­lien: nebst Hans Hür­li­mann vom «Ster­nen» noch den Alois Hür­li­mann vom «Engel», beide grosse Kon­kur­ren­ten und Freunde zugleich. Natio­nal­rat Alois Hür­li­mann war Chef der eid­ge­nös­si­schen Ver­kehrs­kom­mis­sion und als sol­cher wollte er unter allen Umstän­den errei­chen, dass die Auto­bahn vom Gott­hard nach Zürich an den Zuger­see gebaut würde, damit die Rei­sen­den vom West­ufer aus jeder­zeit den fort­schritt­li­chen Kan­ton mit dem Kan­tons­haupt­ort Zug bestau­nen könn­ten. Nur ganz knapp wurde das Vor­ha­ben im Kan­tons­rat ver­senkt und so blieb die­ser wun­der­bare Ufer­ab­schnitt natur­nah erhalten.

Vor Ober­wil ist der Blick frei auf die Kir­che Bru­der Klaus. Nein, es kamen keine Geschich­ten3 über die katho­li­sche Erzie­hung des Schrift­stel­lers oder über die von ihm besuchte Klos­ter­schule Ein­sie­deln oder über sei­nen Onkel, der in St. Gal­len Stifts­bi­blio­the­kar war, son­dern eine Ver­sion des Ober­wi­ler Bil­der­strei­tes, wie sie wohl kaum ein Zuger kennt. Eines fried­li­chen Abends kam ein Anruf der Poli­zei, sein Vater – damals Poli­zei­di­rek­tor des Kan­tons Zug – müsse drin­gend nach Ober­wil, er werde mit dem Poli­zei­auto abge­holt. Tho­mas fragte sei­nen Vater: «Darf ich mit­kom­men?» Der Vater wil­ligte ein. In Ober­wil ging es in der neu erbau­ten katho­li­schen Kir­che laut zu und her. Rechts­an­walt Dr. Pfluger, Vater der Fern­seh­mo­de­ra­to­rin Ros­ma­rie Pfluger, for­derte den renom­mier­ten Künst­ler Fer­di­nand Gehr auf, seine Wand­bil­der mit den wie Spie­gel­eier aus­se­hen­den Gesich­tern der Engel neu zu malen. «Beim Ein­grei­fen mei­nes Vaters kam ein­mal mehr seine poli­ti­sche Raf­fi­niert­heit zum Tra­gen: Sein Vor­schlag, die Bil­der nach der Fer­tig­stel­lung mit Vor­hän­gen zu ver­se­hen, war der erfolg­rei­che Kom­pro­miss. So konn­ten pro­gres­sive Kir­chen­gän­ger die Bil­der wäh­rend der Messe sehen, die andern ver­deck­ten die Engel mit den Spiegeleier-Gesichtern.»

Am heu­ti­gen Abend vom 7. Sep­tem­ber 2023 steht der Zuger­see ganz im Zen­trum der Erzähl­kunst. Sogar der Name Hür­li­mann könnte etwas mit der Schiff­fahrt zu tun haben: «Die frü­here Schreib­weise unse­res Namens war Hörn­li­mann; das waren Schif­fers­leute, die vorne auf den Nauen stan­den und bei Nacht oder Nebel in ein Horn blie­sen, um das Schiff akus­tisch erkenn­bar zu machen.» Unsere Fahr­gäste auf MS Schwan sind sich einig: Hür­li­mann ist ein genia­ler Erzäh­ler und mir kommt der Satz sei­nes Berufs­kol­le­gen Emil Zopfi in den Sinn: «Wer erzäh­len kann, kann auch schreiben».

Hin­reis­send und mit Leib und Seele dabei: Geschich­ten erzäh­len gehört zu Gre­cos künst­le­ri­schen Highlights.

Der Tüü­fel­s­tei, enga­giert erzählt von Maria Greco vor der Kulisse von Oberwil.

Die legen­dä­ren Son­nen­un­ter­gänge am Zuger­see ver­mö­gen auch die Gäste der Apé­ro­fahrt immer wie­der zu begeistern.

Aus sei­nen viel­fäl­ti­gen Erzäh­lun­gen wird schnell klar: Der Schrift­stel­ler Tho­mas Hür­li­mann kennt den Zuger­see in all sei­nen Facetten.

Der Autor nimmt die gemüt­li­che Stim­mung an Bord empa­thisch auf und bringt in über­ra­schend locke­re­rer Atmo­sphäre die Gäste zum Schmun­zeln, Lachen und Nachdenken.

Ein lei­der ver­grif­fe­nes Buch: Der Titel beschreibt nicht nur den Inhalt, son­dern vor allem den Zuger­see selbst.

Durch Klick aufs Bild erscheint die­ses im Grossformat.

Am Schluss des Blogs ist Ihr Kom­men­tar willkommen.

Hin­weise

1) Am spä­te­ren Nach­mit­tag des 4. März 1435 ver­sank die gesamte Häu­ser­reihe ent­lang der nie­de­ren Gasse in der Zuger Alt­stadt. Diese (sie befand sich vor der heu­ti­gen unte­ren Alt­stadt) rutschte mit 26 Gebäu­den in den See. Die Kata­stro­phe for­derte 60 Men­schen­le­ben, das ent­sprach knapp einem Sieb­tel der dama­li­gen Stadt­be­völ­ke­rung von Zug. Rund 450 Jahre spä­ter ereig­nete sich ein ähn­li­ches Unglück, bei wel­chem am 5. Juli 1887 das Ufer bei der Vor­stadt ein­brach und 35 Häu­ser im See ver­san­ken. Dabei kamen elf Per­so­nen ums Leben und etwa 650 wur­den obdachlos.

2) Sir Ahmed Sal­man Rush­die ist ein indisch-bri­ti­scher Schrift­stel­ler. Er gehört zu den bedeu­tends­ten anglo-asia­ti­schen Ver­tre­tern der zeit­ge­nös­si­schen eng­li­schen Lite­ra­tur. Einen gros­sen Erfolg ver­zeich­nete er 1988 mit sei­nem Werk «Die sata­ni­schen Verse». Der dama­lige oberste Füh­rer des Iran Ruhol­lah Cho­mein ver­ur­teilte Rush­die mit­tels einer Fatwa am 14. Februar 1989 zum Tode. Er setzte auf ihn ein Kopf­geld von zunächst einer Mil­lion aus, spä­ter ver­dop­pelte er den Betrag noch zwei Mal auf vier Mil­lio­nen US-Dol­lar. Der Dich­ter lebte wegen der erhal­te­nen Mord­dro­hun­gen in erzwun­ge­ner Iso­la­tion an stän­dig wech­seln­den Wohn­or­ten und stand unter Poli­zei­schutz, so auch im Schloss Buo­nas, wie sich Tho­mas Hür­li­mann sicher ist. Wäh­rend eines Vor­trags in Chau­tau­qua (im Bun­des­staat New York), am 12. August 2022, wurde Rush­die durch meh­rere Sti­che an Hals, Gesicht, Leber und Arm ver­letzt. Sal­man Rush­die ist seit die­sem Angriff auf dem rech­ten Auge blind.

3) Dabei gäbe es an die­sem Abend noch viele inter­es­sante The­men zu erwäh­nen. Zum Bei­spiel sein pro­duk­ti­ves Schaf­fen (Das Werk «Die Tes­si­ne­rin» wurde in 13 Spra­chen über­setzt), sein lan­ger Auf­ent­halt in Ber­lin («Meine Krank­heit führte mich in die Hei­mat Walch­wil zurück.»), seine Erfolge (mit mind. 20 inter­na­tio­na­len Prei­sen gekrönt) und Kon­tro­ver­sen um seine Per­son («Fräu­lein Stark», «Der grosse Kater»).

Impres­sum

Text du Bil­der H. Amstad

Bewer­tung abgeben 🙂

[ratings]

Archi­vie­rung

Zum Archi­vie­ren oder Aus­dru­cken die­ses Medi­en­be­rich­tes akti­vie­ren Sie das Icon. Bevor Sie das PDF sichern, dru­cken oder able­gen emp­feh­len wir, zur opti­ma­len Dar­stel­lung, die Aus­rich­tung Quer­for­mat in der Grösse 80 %. Geeig­nete Brow­ser sind Fire­fox, Mozilla, Google Chrome. (Bei ande­ren Brow­sern könn­ten die Bil­der zer­schnit­ten werden.)