Betrachtungen von Claudia Wick: Physik von starren und beweglichen Schaufelrädern beim Schiffsantrieb
Die Corona-Zeit verfliegt für mich im Nu. Als vom Alter her „gefährdete Person“ bewege ich mich wie vom Bundesrat geboten nur so viel wie nötig und so wenig wie erwünscht ausserhalb der Stammwohnung. Die Familie sehe ich via Zoom und Schiffe fahren eh (fast) keine mehr. Traurig aber wahr. Vier längere Reisen fallen ins Wasser, unter anderem die bereits fertig organisierte Reise „Mit dem Dampfschiff durch Finnland“ der Schiffs-Agentur. Parallel dazu erleben wir die schönsten und wärmsten Frühlingswochen seit Jahrzehnten und ein Hochdruckgebiet löst das andere ab. Die Corona-Zeit bringt auch neue „Freiheiten“, zum Beispiel Bücher zu lesen oder sich mit zeitintensiven Fachthemen zu befassen.
Im Zusammenhang unseres (verschobenen) Besuches zum Schiffsmodellbauer Erich Liechti machte ich Bekanntschaft mit Claudia Wick aus München, ebenfalls Schiffsmodell-Bauerin. Die gebürtige Luzernerin bekundet seit ihrer Kindheit Interesse an Dampfschiffen: „Dies begann im Kinderwagen mit Nachmittagsspaziergängen von Kehrsiten nach Stansstad und setzte sich im Kindergarten fort. Wir erwischten immer die ‘Uri’, lange kannte ich nur dieses Schiff. Und wenn wir so eine Tour gemacht hatten, malte ich nachher tagelang… Dampfschiffe. In der Primarschule durfte ich sogar dabei sein auf der 2. Jungfernfahrt der ‘Unterwalden’. Dank Kapitän Alois Kaufmann durfte ich mit DS Gallia mehrfach mitfahren, auch mal ins Steuerhaus (und sogar hornen) und in den Maschinenraum. Und so ging es weiter, bis die Schularbeiten für das Gymnasium zu viel Tribut forderten. Aber wer einmal vom Dampfervirus befallen ist, wird es nicht mehr los.»
Die Eltern – Vater Peter Wick war langjähriger Direktor des Gletschergartens Luzern – boten ihren zwei Töchtern ein Umfeld spannender Entdeckungen und breiter Bildung. Trotz „technisch-interessierten Vorzeichen“ ging ihr Studium aber in eine völlig andere Richtung. Sie promovierte 2003 in klassischer Philologie (Latein, Altgriechisch). Wick selbstkritisch: «Ein paar faule Mathematikmonate im Untergymi, Algebra verpasst, mehr Lust auf Sprachen, und schon war der Zug abgefahren.» Heute arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ein Zweitstudium schliesst sie nicht aus: «Der Schiffbau, die Dampfmaschinen, und eigentlich auch sonstige Technik war immer meine Liebe und wird sie stets bleiben.»
Diese Neigung lebt sie mit ihrem Hobby Modellbau aus. Claudia Wick: «Wir haben hier in München zwei Modellbauerstammtische: einen für den Kartonmodellbau und einer für den ‘Arbeitskreis hist. Schiffbau’. Mein Kollege Michael Bauer kam vor einem Jahr mit einem Originalplan der «Hohentwiel»-Räder, der Chefredakteur des Arbeitskreises wollte daraus gleich eine Planbeilage fürs ‘logbuch’ machen.» Ihr Vorschlag, mit Bildern und Erklärungen diese Trouvaille zu ergänzen, fand Unterstützung.**
Von starren und beweglichen Schaufeln
Claudia Wick hat dann für die Zeitschrift „das logbuch“ Nr. 4/2019 und 1/2020 eine umfassende Analyse über die Entwicklung und Technik der Schaufelräder recherchiert und differenziert verfasst. Hier wird unter anderem auch meine Frage nach der Effizienz starrer und beweglicher Schaufeln beantwortet. Bis vor wenigen Jahren war für mich klar: Beim einfachen Schaufelrad mit starr montierten Schaufeln treffen diese schräg aufs Wasser und tauchen so auch wieder auf; der Wirkungsgrad muss entsprechend schlecht sein.
Die Abbildung 1 bestätigt aufs Erste diese Vermutung: Idealerweise würde den Vorschub im Wasser der horizontale Kraftvektor S leisten. Doch der effektive Kraftvektor D des starren Schaufelrades zielt beim Ein- und Austauchen in eine andere Richtung. Die Differenz der beiden Vektoren ist mit der gestrichelten Linie angedeutet: Nur in der tiefsten Lage des Radkranzes steht die Schaufel senkrecht zur Fahrrichtung und vermag dadurch die Schubkraft optimal zu übertragen. Beim Schaufelrad mit einer Exzenterkonstruktion* sind die Schaufeln hingegen beweglich. Sie tauchen nahezu senkrecht ins Wasser ein und aus und können somit die Antriebskraft besser in Geschwindigkeit des Schiffes umwandeln; die beiden Kraftvektoren in Abbildung 1 sind dann gleich. Soweit die Theorie.
Die Verunsicherung
Eine Fahrt mit dem bislang einzigen Seitenrad-Hotelschiff der Welt, der „Loire Princesse“ in Nantes, hat mich verunsichert: ein im Jahre 2015 erbautes Schiff setzt auf starre Schaufeln? Die französischen Konstrukteure der Werft Chantier naval STX in Saint-Nazaire haben bewegliche Schaufeln evaluiert und kamen zum Schluss, dass sich eine solche wesentlich aufwendigere Konstruktion nicht auszahlt2. Claudia Wick findet dazu weitere Argumente: «Eine solche Konstruktion hat durchaus Vorteile: sie ist robust, relativ leicht und weist keine störanfällige Steuermechanik mit Gelenken und Steuerstangen auf. Ausserdem lassen sich Schäden, die auf unregulierten Flüssen wie bei der Loire mit Untiefen und Treibgut öfter vorkommen, leicht reparieren.“
Claudia Wick hat in Josef Gwerders Bordbuch über die „Rigi“ ebenfalls Widersprüchliches über starre und bewegliche Schaufelräder gefunden. 1852 wurden am Vierwaldstättersee-Dampfschiff Rigi (Baujahr 1848) diesbezügliche Experimente von Escher-Wyss durchgeführt. Dabei ersetzen die Schiffbauer die bisherigen starren Schaufeln durch Räder mit beweglichen Schaufeln. Zitat aus dem Bordbuch Rigi: „Die Verbesserung der Geschwindigkeit wird mit 7% garantiert. Es wird eine Probefahrt beim leeren Schiff mit den starren Radschaufeln und nach dem Umbau mit den beweglichen Schaufeln (…) vereinbart. (…) Am 13. April 1852 erfolgt die Probefahrt mit den starren Radschaufeln. Die direkte Strecke Luzern – Flüelen wird in genau 2 Stunden durchfahren bei einer mittleren Drehzahl von 37 U/min. Der Holzverbrauch beläuft sich auf 17 Zentner.
Die Probefahrt mit den neuen, beweglichen Schaufeln erfolgte am 16. November, nachdem eine erste Testfahrt am 12. November unerfreuliche Resultate erbrachte. Inzwischen hat Escher Wyss neue, längere und breitere Holzschaufeln montiert. Nun beträgt die Fahrzeit 1 Std. 56’ 50” bei 37 U/min, Holzverbrauch ebenfalls 17 Zentner. Für die Rückfahrt wird das Schiff mit 5 Klafter Holz und 100 Zentner Brennholz beladen. Es braucht für die direkte Strecke Flüelen – Luzern 1 Std. 59’ bei 36 3/10 U/min, Holzverbrauch 17 Zentner. Eine Geschwindigkeitsverbesserung von garantierten 7 % wurde in keiner Weise erreicht. (…) Nach langen Verbalprozessen hin und her erklärt sich Escher Wyss am 7. Februar 1853 bereit, die Akontozahlungen zurückzuerstatten. (…) Der weitere Lebenslauf und diverse Bilddokumente zeigen (…), dass wieder die ursprünglichen Räder montiert wurden.“ Also doch nichts mit dem physikalischen „Wunder“ der beweglichen Schaufeln?
Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?
Trotzdem verschwanden nach 1840 die starren Schaufeln bei Neubauten bald und machten den beweglichen Eisenschaufeln, wie sie heute auf so gut wie allen noch in Betrieb stehenden Radschiffen und an vielen Museumsexponaten zu sehen sind, ab den späten 1880-er Jahren Platz. Selbst DS Rigi bekam dann, als letzter Schweizer Raddampfer, 1893 bewegliche Schaufelräder***. Claudia Wick löst den scheinbaren Widerspruch mit physikalischen Erklärungen auf, die uns in die interessante Welt der Mechanik führt. „Man ging zunächst davon aus, dass die Schaufeln idealerweise vom Ein- bis zum Austauchen in senkrechter Position stehen sollten – genau wie die Riemenblätter eines Ruderbootes.“ Was passiert da physikalisch?
Das Rad mit den Schaufeln dreht mit konstanter Geschwindigkeit. Claudia Wick: „Die Wege zwischen den Punkten A, B, C, D usw. sind auf dem Kreis gleich lang, und sie zu durchlaufen dauert jeweils gleich lang. Die Antriebskraft wirkt jedoch in horizontaler Richtung, in der Abbildung als blaue Linie dargestellt. Man erkennt nun deutlich, dass die Weglänge, welche die Schaufel in horizontaler Richtung zurücklegt, zwischen den Punkten A´, B´ und B´, C´ sehr unterschiedlich ist.
Doch wie wir gerade gesehen haben, benötigt die Schaufel für den Weg von A nach B dieselbe Zeit wie von B nach C. Daraus resultiert, dass die horizontale Strecke A´ bis B´ um ein Mehrfaches langsamer zurückgelegt wird als jene von B´ nach C’. Die horizontale Geschwindigkeit ist beim Ein- und Austritt der Schaufel als am geringsten, und man kann verstehen, dass bei einem sehr tief eingetauchten Rad die Schaufeln an diesen Punkten eher bremsen statt beschleunigen. Stehen sie in dieser Phase senkrecht, ist diese Bremswirkung stärker als wenn sie schräg stehen. Gesucht ist somit ein Kompromiss: der beste Anstellwinkel für die Schaufeln bei Ein- und Austritt muss irgendwo zwischen demjenigen der starren und demjenigen der senkrecht stehenden Schaufel liegen!“
In den entsprechenden Konstruktionshandbüchern ist das Lösungsprinzip plausibel dargelegt, wie man nun zu diesem idealen Kompromiss kommt, damit die Störeffekte vermindert werden. Wick: „Das daraus resultierende, klassische Schema ist in Abbildung 3 zu sehen: Die Schaufelneigung orientiert sich während des Weges im Wasser am Scheitelpunkt D.“ Ich freue mich auf die nächste „Physikstunde“ von Claudia Wick.
Claudia Wick im Maschinenraum von DS Piemonte
Radschiff Elias Lönnrot1, Baujahr 1986, auf dem See Keurusselkä/Finnland, ebenfalls mit starren Schaufeln
Die «Loire Princess»2 mit starren Schaufeln, Baujahr 2015, auf der Loire in Frankreich im Einsatz****
Dynamik pur: DS Gallia mit beweglichen Schaufeln würde ihre Spitzengeschwindigkeit von über 31 km/h mit starren Schaufeln nicht erreichen.
Die 1900 erbaute Radkonstruktion mit beweglichen Schaufeln der «Waimarie» (auf dem Fluss Wanganui in Neuseeland) im örtlichen Schiffsmuseum; das Schiff hat heute einen im Jahr 1998 nachbebauten Schaufelantrieb.
Die filigrane Konstruktion beweglicher Schaufeln am Beispiel der «Hohentwiel»
Ästhetik vom Feinsten: Detailaufnahme des Backbordschaufelrades der «Genève» in Genf
Zeichnungen Cl. Wick, Bild 1: M. Gavazzi, Text und übrige Bilder H. Amstad (Bild 6 Sammlung)
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
Erläuterungen
*) Ein Exzenter ist im Zusammenhang des Maschinenbaus eine auf einer Welle angebrachte Steuerungsscheibe, deren Mittelpunkt ausserhalb der eigentlichen Wellenachse liegt.
**) Claudia Wick ergänzend: «Und so rutschte ich in die Forschung des Radantriebes hinein. Gespräche mit Maschinisten, Reisen nach Lausanne und Kontakte zu den Kollegen in Paris – es ging alles sehr schnell. Aktuell wühle ich mich durch über 150 Seiten Patentstreitakten von 1835 auf englisch. Die Rolle von Cavé wird deutlicher, von Galloways Rad habe ich mittlerweile eine Zeichnung, und gerade heute schickte mir der Pariser Kollege die so schmerzlich vermisste Zeichnung des echten Cavé-Rades. Kurzum: es geht weiter! Der Artikel soll im Sommer 2020 in NEPTUNIA, unserem französischen Partnermagazin erscheinen, ich übersetze ihn gerade.»
***) Heimo Haas, langjähriger Chefmaschinist der «Stadt Luzern» äussert zur Begründung des schlechten Abschneidens der beweglichen «Rigi»-Schaufeln gegenüber Claudia Wick die Vermutung, dass die starren Schaufeln wohl relativ günstig, d.h. steil, eingetreten sind. Wick: «Tatsächlich hatte die ‘Rigi’ 18 (!) Schaufeln auf ihrem kleinen Rad (kleinster Durchmesser aller Vierwaldstättersee-Schiffe und höchste Anzahl Schaufeln, welche zudem die schmalsten von allen waren). Sollte Escher Wyss beim Versuch ebenfalls 18 Schaufeln eingesetzt haben, war der Abstand zwischen zwei beweglichen Schaufeln viel zu gering. Die Konstruktionshandbücher sagen klar, dass es einen Minimalabstand gibt, damit überhaupt wieder genügend Wasser auf die Schaufel kommt. Mit einem anderen Rad wäre der Versuch möglicherweise besser gelaufen. Das zeigt auch die Umstellung auf DS Waldstätter: die auch hier ursprünglich 18 starren Holzschaufeln wurden 1878 durch 10 und 1904 gar durch 6 bewegliche ersetzt.»
****) Claudia Wick ergänzt zu den Schaufeln der «Loire Princesse: «Wenn man die sehr starke Krümmung der Schaufeln betrachtet, scheint mir der Fall klar: das ist ein Kompromiss zwischen dem robusten Rad mit starren, flachen Schaufeln und demjenigen mit beweglichen Schaufeln. Durch die starke Krümmung wird der Effekt der beweglichen Schaufeln weitgehend imitiert – man kann sich geradezu ein Bündel Kraftvektoren auf dieser Krümmung vorstellen.»
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Bravo – - es war höchste Zeit, dass sich jemand mal nicht nur «vom Hörensagen» her, sondern wissenschaftlich in die Mechanik und Hydrodynamik des Schaufelrades hineinkniet! Nur weiter so!
Etwas umständlich und völlig überflüssig , denn ein kurzer Blick in ein älteres Lehrbuch für Schiffbau (z.B. Theorie Des Schiffes) würde das Problem einwandfrei klären. H.Kern
Sehr geehrter Herr Kern. Ich würde mich freuen, wenn Sie an dieser Stelle ein Literaturverzeichnis mit Technikschwerpunkt «Radantrieb bei Schiffen» einstellen könnten. Besten Dank im Voraus. Freundliche Grüsse alois fischer
Der Artikel ist sehr interessant. Danke. Die Geometrie des Rades beim Einsatz in Fliessgewässern ist ein Thema, welches mich brennend interessiert. Berg- oder Talfahrt, Wassertiefe, Breite des Fliessgewässers (Widerwasser) usw. haben Einfluss auf die Ausgestaltung des Rades bzw. auf den Wirkungsgrad. Bei einem Flussschiff, wie der «Loire Prinzess» ist der «Radantrieb» bei geringer Wassertiefe und einem flachen Flussbett ein augenscheinlicher Vorteil, welcher die Schiffbarkeit auch bei geringem Wasserstand garantiert. Der Wirkungsgrad war sicher ein untergeordnetes Kriterium. Ausserdem hätten sicher auch die finanziellen Mittel gefehlt, um hier grosse Berechnungen und Versuche anstellen zu können. Nichtsdestotrotz war die Fahrt mit der «Loire Prinzess» auf der Loire ein Erlebnis!
Sehr interessanter Artikel. Ich bin auch Modellbauer und habe mich auf dampfbetriebene Radschiffe spezialisiert, teilweise mit starren und exzentergesteuerten Schaufelrädern. Der Unterschied in der Effektivität ist nicht allzu gross, doch spürbar. Wesentlicher ist der möglichst grosse Durchmesser der Räder. Modelle europäischer Raddampfer mit ihren zumeist recht kleinen gesteuerten Rädern müssen mit erheblich höherer Drehzahl betrieben werden, um eine dem Original entsprechende Wellenbildung (nach der Froude‹schen Formel) zu produzieren. Bei den Radschiffen «Loire Princess» und «Elbe Princess» wurden mittlerweile exzentergesteuerte Räder eingebaut, durch die starke Wellenbildung waren Paddler und kleine Segelboote gefährdet worden. In einem anderen Forum fand ich die Berechnung des Schlupfes am Beispiel des 1 : 48 Modells vom Raddampfer «Mount Washington» mit grossen starren Rädern von 165 mm Durchmesser. Dieses im Original sehr schnelle Schiff (20 Meilen/h) musste mit ca. 180 U/min betrieben werden, um die dem Original entsprechende Wellenbildung zu erreichen. Der Schlupf war nach der Berechnung erstaunlich gering, ca. 14%. Quelle: http//www.schiffsmodell.net/index.php?/forums/topic/1190-getriebe-für-sidewheeler/. Unter optimalen Bedingungen kann ein Schaufelradantrieb erheblich effektiver sein als ein Schraubenantrieb. Das beweist eindeutig die Dresdener Schifffahrtsgesellschaft mit ihren Raddampfern und deren relativ leistungsschwachen Maschinen von 110 – 350 PS.