Das Geo­schiff See­stern: leben­dige Tek­to­nik rund um den Walensee

Mit MS See­stern hat der Schiffs­be­trieb Walen­see AG ein idea­les Stu­dien- und Vor­trags­schiff in ihrer Flotte. Bei schö­nem Wet­ter geniesst der Fahr­gast auf dem Ober­deck einen unge­hin­der­ten 360°-Ausblick, bei schlech­tem Wet­ter fin­det die Ver­an­stal­tung im ebenso gross­zü­gi­gen Salon dar­un­ter statt. Bis zu einem hal­ben Dut­zend Mal im Jahr fährt das soge­nannte Geo­schiff aus, ein Mal davon auch öffent­lich. Sonst sind die Kun­den Fir­men oder pri­vate Grup­pen, die den Refe­ren­ten Kas­par Papritz enga­gie­ren für einen vier­stün­di­gen Aus­flug in die span­nende Geo­lo­gie rund um den Walensee.

Kas­par Papritz, ein gebür­ti­ger Ber­ner, arbei­tet im „nor­ma­len Leben“ als Geschäfts­füh­rer der Firma Dr. Ber­nas­coni AG in Sar­gans, einem Spe­zia­lis­ten­un­ter­neh­men für Geo­lo­gie und Hydro­geo­lo­gie. Papritz: „In den letz­ten Jah­ren waren wir stark beschäf­tigt mit den The­men Grund­was­ser­schutz sowie Alt­las­ten und deren Sanie­rung. Heute beschäf­ti­gen wir uns ver­mehrt mit den Schwer­punk­ten Rena­tu­rie­rung, Hoch­was­ser­schutz und Natur­ge­fah­ren.“ Über 40 Per­so­nen nah­men bei herr­lichs­ten Bedin­gun­gen ab Walen­stadt und Unter­ter­zen auf der „See­stern“ Platz und lausch­ten den Aus­füh­run­gen des Geo­lo­gen. Der Schiffs­mast wurde zu einer Info­ta­fel­hal­te­rung umfunk­tio­niert. Geschichte und Geo­lo­gie haben eines gemein­sam: ohne Jahr­zah­len geht gar nichts. Nur kann ich sie mir trotz mathe­ma­ti­scher Affi­ni­tät schlecht mer­ken. Drei Jah­res­zah­len sind mir auf die­ser span­nen­den Fahrt aber geblie­ben: 280 000 000 vor unse­rer Zeit­rech­nung, 18 000 vor Christi und 1780 nach Christi.

In 20 000 Jah­ren gibt es kei­nen Walen­see mehr

Die Sand­steine und Kon­glo­me­rate im schrof­fen Murg­tal (am lin­ken Walen­see-Ufer) haben das stolze Alter von 280 Mil­lio­nen Jah­ren. Alvier und Chur­firs­ten mit den senk­rech­ten Kalk- und Schie­fer­wän­den (am rech­ten Walen­see-Ufer) sind hin­ge­gen «nur» etwa halb so alt. Diese Zah­len lie­gen aus­ser­halb mei­ner Vor­stel­lungs­kraft, diese Fel­sen müs­sen aber rela­tiv jung sein, da unsere Erde 4 600 Mil­lio­nen Jahre alt ist. Bes­ser liegt mir die zweite Zahl, sie ist bloss 10 Mal so viel wie die Zeit von Null bis heute. Kas­par Papritz: „Der Walen­see ent­stand vor 20 000 Jah­ren. Dazu­mal schmol­zen nach der letz­ten Eis­zeit die Glet­scher innert weni­ger als Tau­send Jah­ren weg und hin­ter­lies­sen aus­ge­ho­belte Täler, die bis weit unter den Mee­res­spie­gel reich­ten. Sie füll­ten sich mit Was­ser. Das Gebiet des heu­ti­gen Zürich‑, Walen- und Boden­sees war dann eine ein­zige Was­ser­flä­che, die auch bis Ilanz reichte. Erst durch die Ero­sion und dem zahl­rei­chen Auf­schüt­tungs­ma­te­rial der Bäche und Flüsse wurde die­ser See mit der Zeit klei­ner; die heu­ti­gen Seen sind beschei­dene Über­reste.“ Und wann ist der Walen­see ganz auf­ge­füllt? Papritz: „Pro Jahr wird der Walen­see zwi­schen 3 und 4 cm zuge­schüt­tet. Das heisst, der See ist in wei­te­ren 20 000 Jah­ren ver­schwun­den; wir sind also etwa in der Halbzeit.“

Schiffs­füh­rer Roman Pfiff­ner und der zweite Steu­er­mann Diet­mar Wurz­ner haben ein genaues Dreh­buch der Route und stop­pen vor den jewei­li­gen geo­lo­gi­schen „Hot­spots“ an, von denen es rund um den Walen­see viele hat. Nach einer Stunde Fahrt legen wir in Bet­lis an. Auf dem halb­stün­di­gen Spa­zier­gang zur Rinquelle gibt es am Fusse der Chur­firs­ten wei­tere Erläu­te­run­gen. Etwas ver­steckt direkt bei den vom Schiff aus gut sicht­ba­ren drei See­ren­bach­fäl­len über­rascht uns ein bis anhin mir unbe­kann­tes Natur­schau­spiel: unheim­li­che Men­gen Was­ser – am heu­ti­gen Tag dürf­ten es über 10 000 Liter pro Sekunde sein – schies­sen direkt aus dem Fel­sen der Chur­firs­ten über einen 40 Meter hohen Was­ser­fall in den See­ren­bach: die Rinquelle1. Das Was­ser kommt vom Tog­gen­burg; an den kalk­hal­ti­gen und karst­för­mi­gen Plang­gen der Chur­firs­ten, die sanft nord­wärts ins Tog­gen­burg abfal­len, ver­si­ckert das Was­ser und fliesst in einem gros­sen Höh­len- und Gang­sys­teme dem Walen­see zu. Papritz: „Selbst Was­ser vom Sän­tis konnte nach­ge­wie­sen wer­den.“ Der monu­men­tale Aus­tritt der Rinquelle aus der Fels­wand ist ledig­lich der Über­lauf einer unter­ir­di­schen „Bade­wanne“, die bei Schnee­schmelze und star­kem Regen „über­schwappt“. Der „nor­male“ Aus­lauf befin­det sich sonst unter­halb des See­spie­gels. Im Herbst nach einem tro­cke­nen Som­mer kommt daher kein ein­zi­ger Trop­fen aus der Rinquelle heraus.

Und die dritte Zahl, 1780? Kas­par Papritz: „Der Fak­tor Mensch hat bei der Indus­tria­li­sie­rung stark in die Geo­lo­gie ein­ge­grif­fen. Es ent­stan­den in die­ser Gegend, ins­be­son­dere im Glar­ner­land, um diese Zeit zahl­rei­che Webe­reien und Tex­til­fa­bri­ken, die Ener­gie brauch­ten. Man holzte dazu fast sämt­li­che Wäl­der ab2. Die Fol­gen waren mas­siv: Bei jedem Regen kamen Ton­nen von Erde in den Tal­kes­sel geschwemmt. Innert weni­ger Jah­ren wurde die Lint­he­bene mit Abla­ge­rungs­schutt über­deckt. Es kam zu Über­schwem­mun­gen, der natür­li­che Aus­fluss des Walen­sees, die Maag, wurde zurück gestaut und dadurch stieg der See­spie­gel des Walen­sees um sie­ben Meter. Leben und Lebens­grund­la­gen der Bevöl­ke­rung waren mas­siv bedroht.“ Anfangs des 19. Jahr­hun­derts grif­fen dann die Mass­nah­men: die Linth wurde mit dem neuen Escher­ka­nal ost­wärts in den Walen­see umge­lei­tet und der Aus­fluss des Walen­sees, der frü­he­ren Maag, mit dem neu erbau­ten Linth­ka­nal in den Zürich­see begradigt.

Nach der Wan­de­rung genies­sen wir die eigens kre­ierten Geo­sand­wi­ches: hori­zon­tal geschich­tet wie die Chur­firs­ten an deren Süd­flan­ken bestehen sie aus sechs Brot- und drei Fleisch­schich­ten. Es emp­fiehlt sich, beim Essen diese schicht­weise abzu­tra­gen. Das Geo­schiff hatte heute nau­tisch zwei inter­es­sante Neben­ge­schich­ten: am Mor­gen prä­sen­tierte sich MS Chur­firs­ten in Unter­ter­zen vor dem gleich­na­mi­gen Gebirge und am Abend ent­deckte ich auf dem Werft­areal des Schiffs­be­trie­bes Walen­see die Reste des Schif­fes Linth. Die­ses wurde ver­schrot­tet3. So tre­ten auch in der Schiff­fahrt Ero­si­ons­er­schei­nun­gen auf…

MS See­stern macht Zwi­schen­halt in Bet­lis, dem Aus­gangs­punkt einer halb­stün­di­gen Wan­de­rung zur Rinquelle. Bei Schnee­schmelze oder star­kem Regen lohnt sich eine kurze Wan­de­rung zu die­sem Naturschauspiel.

Kas­par Papritz erklärt die fas­zi­nie­ren­den Schich­ten des Alvier auf dem fah­ren­den Semi­nar­schiff See­stern. Stein­brü­che, von denen es rund um den Walen­see viele gab, lösen man­ches Rät­sel, denn der Geo­loge muss sich haut­säch­lich mit ver­steck­ter Mate­rie beschäftigen.

Blick zum Stein­bruch öst­lich von Betlis

Diet­mar Wurz­ner am Steuer und Roman Pfiff­ner sind nebst für die nau­ti­schen heute auch für die kuli­na­ri­schen Belange zuständig.

Die „Linth“ wird in die­sen Tagen verschrottet…

… auch die Schale ist nicht mehr zu ret­ten; ein Teil des Walen­see-Kapi­tels «Schiff­bau Oth­mar Wal­ser» verschwindet.

Begeg­nung mit dem Kurs­schiff Chur­firs­ten vor der gleich­na­mi­gen Bergkulisse

Bil­der im Text­teil: Bis maxi­mal 30 Ton­nen Was­ser in einer Sekunde schnel­len aus dem Fel­sen (oben). Der Plan (unz­ten) zeigt blau den Ver­lauf des Escher- (links) und des Linth­ka­nals mit dem bis­he­ri­gen Ver­lauf der Maag und der Lint (grau).

Durch Klick aufs Bild erscheint die­ses im Grossformat.

Am Schluss des Blogs ist Ihr Kom­men­tar willkommen.

Hin­weise

1) Die Rinquelle wurde zwi­schen 1953 und 1981 erforscht. Dabei gelang es dem Deut­schen Jochen Hasen­mayer, 930 m in die Quelle hin­ein­zu­tau­chen. Für mich eine unge­heu­er­li­che Vor­stel­lung: er musste dabei in der Dun­kel­heit und unter Was­ser mit der Strö­mung fer­tig werden.

2) Die Umwelt­schä­den nach die­ser schweiz­weit erfolg­ten Abhol­zung war der­art gross, dass die eid­ge­nös­si­sche Tag­sat­zung 1876 ein revo­lu­tio­nä­res Wald­ge­setzt beschloss, das sich der Nach­hal­tig­keit ver­schrieb. Die­ses gilt mit leich­ten Modi­fi­ka­tio­nen bis heute: Wer Wald roden will, braucht eine Bewil­li­gung und muss die ent­wal­dete Flä­che anderswo kompensieren.

3) Steck­brief MB Linth: 1978 bis 2017, Bau Oth­mar Wal­ser Quin­ten, Poly­es­ter­bau­weise, L 10,70 m, B 2,50 m, 170 PS, 46 Personen.

Impres­sum

Bild 5: M. Bisegger

Text und übrige Bil­der H. Amstad (aktua­li­siert 4.2022)

Archi­vie­rung

Zum Archi­vie­ren oder Aus­dru­cken die­ses Medi­en­be­rich­tes akti­vie­ren Sie das Icon. Bevor Sie das PDF sichern, dru­cken oder able­gen emp­feh­len wir, zur opti­ma­len Dar­stel­lung, die Aus­rich­tung Quer­for­mat in der Grösse 80 %. Geeig­nete Brow­ser sind Fire­fox, Mozilla, Google Chrome. (Bei ande­ren Brow­sern könn­ten die Bil­der zer­schnit­ten werden.)

Bewer­tung abgeben 🙂

[ratings]