Ein Erlebnis aus der Anfangszeit der Dampfschifffahrt: DS E. Nordevall II auf dem Vätternsee in Schweden
Im Rahmen einer Reise der Dampferzeitung konnte ich eine weitere „Pendenz“ auf meiner „Bucket List“ besuchenswerter Dampfschiffe „abhaken“. So technisch und emotionslos dieser Satz klingen mag: eine Fahrt mit dem Dampfer E. Nordevall II* ist alles andere als eine normale Schifffahrt, nämlich ein Erlebnis sondergleichen. Im Vorfeld der Reise nach Schweden gab es unter den Insidern nicht wenige, die sich gegenüber diesem Nachbau (Replika) kritisch äusserten. Auch auf dem Weg nach Forsvik, wo der Raddampfer im Museum Forsviks Bruk den Heimathafen hat, liessen einige der Kapitäne der übrigen Dampfschiffe Schwedens kein gutes Haar an der „Eric Nordevall II“. Das Schiff sei zu breit geraten, sodass es nur sehr schwerlich den Götakanal befahren könne, ein fauler Kompromiss sei es, habe eine zu schwache Maschine und sei überhaupt eine Fehlkonstruktion.
Auf unserer Fahrt bekomme ich als Laie einen andern Eindruck. Ich frage mich, ob bei der Beurteilung auch Neid mitspielen könnte. Denn mindestens Teile der Baukosten von 80 Millionen Kronen (ca. 9 Mio. Franken), die aus Fördergeldern für den Bau des neuen Raddampfers nötig waren, hätten wohl auch andere Dampfschiffvereinigungen Schwedens gerne gesehen. Zu den Vorwürfen aus der Fachwelt meinte der mitgereiste Marinehistoriker und Illustrator Reinhardt Grosch: „Ja, das Schiff ist zum Beispiel 50 cm zu breit. Das kommt von den neuen Vorschriften, bei der Stabilität die heutigen Normen zu erreichen.“ Ich fragte auch Andreas Hübner aus Hamburg, Mediendozent und ausgesprochener Kenner der „Nordevall“, was es mit der Kritik auf sich habe. Hübner: „Das Schiff wurde gebaut, um einen Einblick in die Technik und die Reiseumstände um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu vermitteln, wie es sich für die Reisenden damals anfühlte den Götakanal zu befahren, wie es für die Besatzung war und wie die Maschinentechnik funktionierte. Aus dieser Sicht kann ich die Kritik nicht nachvollziehen. Was die Schleusen anbelangt, so waren diese damals handbetrieben und man hatte Treidel-Ochsen zur Unterstützung der Boote auf dem Kanal.“
Bevor wir das Schiff besteigen, zeigt uns Reinhardt Grosch einzelne Gebäude auf dem Areal der Forsviks Werft, wo unter anderem auch die „Nordevall“ von 1995 bis 2009 gebaut wurde. Man achtete auf eine möglichst originalgetreue Repilka, dies auch in Bezug auf die Bauweise und die Wahl der Baumaterialien. So wurden beispielsweise für die Schale 85 Eichenholzspanten verwendet. Andreas Hübner: „Das Schiff wurde so original ‚wie erlaubt’ gebaut. Kompromisse mussten gefunden werden, um die Vorgaben des Seefahrtsamtes in Sachen Sicherheit einzuhalten. Der Rumpf musste eine grössere Fülligkeit als das Original bekommen, um die Stabilität zu erhöhen. Auch stärkere Planken im Unterwasserbereich und am Wasserpass vergrösserten die Festigkeit gegenüber dem Original.“
Dann besteigen wir fast ehrfürchtig das Schiff. Es riecht nach Rauch von verbranntem Birkenholz. Zusammen mit der zurzeit herrschenden Hitze von 32 Grad Lufttemperatur gibt das ein skandinavisches Sauna-Feeling. Die Flächen auf dem Schiff sind kleinräumig, aber äusserst vielfältig: im „Bauch“ der „Nordevall“ hat es unter anderem 8 Schlafkojen, einen Salon, Stauraum für Güter und einen Imbissraum mit einer „Küche“. Heute hat Kapitän Torsten das Kommando über die fünfköpfige Besatzung. Er steht per Funk in Kontakt mit dem Maschinenraum – ein Kompromiss der Sicherheit zuliebe. Früher stand der Kapitän auf der Kommandobrücke, die aus einem Brett quer über dem Hauptdeck montiert bestand. Er konnte mit einem horizontal liegenden Telegrafen die Befehle zum Maschinisten geben oder durch eine Luke in den Maschinenraum hinunterrufen. Die Umschaltung von Vor- zu Rückwärtsbetrieb scheint eine besondere Herausforderung zu sein. Ich betrachte das Manöver von der Kombüse aus, von dort hat man durch eine Türe eine herrliche Sicht auf die Zwillings-Ballanciermaschine und auf die zwei Feuerlöcher des Heizkessels, die mit meterlangen Birkenscheiten befeuert werden.
Die Geschichte der „Nordevall“ geht auf das Jahr 1832 zurück, als der Götakanal – aus militärstrategischen Gründen gebaut – fertig erstellt war. Bereits drei Jahre später fuhr der erste Raddampfer zwischen der Ost- und der Westküste Schwedens. Andreas Hübner: „Die ‚Eric Nordevall’ war einer von fünf Raddampfern, die speziell für den Götakanal gebaut wurden. Um den Kanal mit seinen vielen Biegungen und engen Schleusen passieren zu können, waren die Schaufelräder in die Rumpfseiten nach innen eingerückt konstruiert. Diese spezielle Rumpfform wurde „Violinen-Typ“ oder im Volksmund auch Geigenschiffe genannt. Zusammen mit ihren Schwesterschiffen revolutionierte die ‚Eric Nordevall’ den schwedischen Verkehr und machte es erstmalig möglich, fahrplanmässig von Göteborg nach Stockholm und zurück zu reisen.“ Die Effizienz war durch diese Bauweise gering und so überraschte es nicht, dass nach der „Erfindung“ des Schraubendampfers dieser auf allen skandinavischen Binnengewässern mit Kanälen schnell die Oberhand gewann und die Raddampfer verschwanden.
Die „Eric Nordvall“ I war das dritte Dampfschiff auf dem Götakanal. Sie wurde 1836 durch die Werft Hammarstens in Norrköping erbaut und anschliessend nach Motala geschleppt, wo sie zwei Balancierdampfmaschinen der Motala Verkstad eingebaut bekam. Nach 20 Betriebsjahren lief der Raddampfer am ersten Verkehrstag im Juni 1857 nördlich der Insel Jungfrun vor dem Ort Vadstena auf Grund. Der Versuch, am andern Tag das Schiff durch zwei andere Raddampfer auf den See zu schleppen gelang zwar, aber die Schäden an der Schale waren grösser als es der erste Augenschein vermuten liess, sodass die „Nordevall“ Leck schlug und sank. Dort lag sie 123 Jahre unbehelligt im Vätternsee, bis sie 1980 durch die Taucher Åke und Olaf Svensson entdeckt wurde. Statt das Schiff zu heben, entstand die Idee, dieses heute einzigartige Verkehrsmittel nachzubauen und das äusserst gut erhaltene Original auf dem Seegrund zu belassen. In den Jahren 1985 bis 1989 führte das Maritime History Museum in Stockholm mit Messungen, Fotografie, Videoaufnahmen und Skizzen archäologische Untersuchungen durch.
Von der Idee bis zur Jungfernfahrt des Nachbaues sollte es fast 30 Jahre dauern; solche ambitionierte Projekte brauchen viel Ausdauer und Durchsetzungswillen vieler Menschen. Es ist dem Verein Forsviks-Werft (Föreningen Forsvik Varv) zu verdanken, dass die „Eric Nordevall II“ nach 15 Jahren Bauzeit im Jahr 2009 ins Wasser kam und analog zum Originalschiff nach Motala – genau gegenüber der Werft an der Ostseite des Vätternsees – geschleppt wurde, um die dort nach den Originalplänen gefertigte Dampfmaschine einzubauen. Die Motala Verkstad wurde 1822 gegründet und ist die berühmteste Lokomotiven- und Schiffsbaufirma in der Industriegeschichte Schwedens. Sie beschäftigt noch heute 170 Leute und ist spezialisiert auf den Bau von Schiffswellen und Reparatur von Lokomotiven. Im Jahr 1870, zur Blütezeit der Motala Verkstad, gab es Arbeit für 1 300 Leute; sie produzierten insgesamt rund 1 300 Lokomotiven (davon über 700 mit Dampfantrieb), 800 Brücken und 400 Schiffe, so auch ganz berühmte Einheiten wie DS Skibladner auf dem Mjösasee oder die „Juno“, die heute noch auf dem Götakanal fährt. Der Kessel der heutigen „Nordevall“ ist wie jener der ersten Ausgabe in Karlskrona (heute von der werfthistorischen Gesellschaft Varvhistoriska Föreningen betrieben) genietet und hergestellt worden.
Die „Nordevall“ ist heute weltweit das einzige fahrbare Dampfschiff mit einer Zwillings-Ballancierdampfmaschine. Nur schon diese Tatsache ist eine Reise nach Schweden wert**. Reinhardt Grosch: „Ein Raddampfer wie Eric Nordevall ist vergleichbar mit dem Übergang von der Pferdekutsche zu mechanisch angetriebenen Verkehrsmitteln. Gleichzeitig zeigt sich hier die Qualität der aufstrebenden schwedischen Industrie der damaligen Zeit. Das Schiff ist weltweit einzigartig. Die Rekonstruktion hat damit sowohl in Schweden als auch international ein grosses nautisches und maschinentechnisches Interesse geweckt.“ Wie diese Maschine funktioniert, soll Gegenstand eines weiteren (B)Logbucheintrages in der kommenden Woche sein.
Zum Abschluss unserer Rundfahrt durch die Bucht von Bottensjön bot uns der Kapitän noch eine besondere Einlage. Bei seinem zweiten Versuch, das Schiff an den Steg von Forsviks Verv zu manövrieren, trieb der starke Südwind das Schiff ab und wir landeten „im Schilf“. Der Raddampfer fuhr 100 Meter vor der Landungsbrücke auf. Der Versuch, das Schiff flott zu kriegen, indem der Kapitän unsere ganze Gruppe auf die Seeseite beorderte, war ebenso erfolglos wie der Befehl, sich alle am Heck aufzuhalten. Mutige Matrosen sprangen dann an Land und schleppten die Gangway von der Station durchs Gebüsch zum Schiff. Trockenen Fusses spazierten wir dann von Bord – um zahlreiche Erlebnisse reicher.***
Der Nachbau der „Eric Nordevall“ passt wunderbar in diese idyllische Gegend des Museums Forsviks Bruk.
Einige Ster Birkenscheiter stehen zum Verfeuern im Brennkessel bereit.
Die Mannschaft und der deutschsprechende Reiseleiter Reinhardt Grosch erscheinen in historischer Montur.
Die beiden Bordkanonen, die wenig später für „spezielle Reisegruppen“ in Aktion treten.
Fahrgäste „bevölkern“ die Kommandobrücke, darunter gut sichtbar die beiden Maschinenöffnungen der Balancierdampfmaschine.
Der Steuermann bedient das Ruder vom Heck aus, daneben mit Funkgerät Kapitän Torsten.
Einer von vielen Höhepunkten dieser Fahrt war der unkonventionelle Ausstieg, 100 m nördlich der regulären Anlegestelle.
Auf der planartigen Zeichnung erkennt man die für die damalige Zeit typische, kleinräumige Aufteilung des Schiffes.
Bild 4 G. Uehlinger, Zeichnung R. Grosch, Text und übrige Bilder H. Amstad
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Bemerkungen
*) Die Schreibweise ist unterschiedlich. Auf dem Schiff steht „E. Nordevall II“, in offiziellen Broschüren oft „Eric Nordevall II“ und oft auch nur die Kurzform „Nordevall“. Im Blogtext verwende ich vor allem die Kurzform. Benannt wurde er nach dem schwedischen Kanalbauingenieur Eric Nordevall (1753 bis 1835).
**) Eine vorgängige Konsultation der Homepage ist zwingend, denn das Schiff fährt nur wenige Male im Jahr öffentlich, oft nach einer Charterfahrt. Das Schiff erreicht keine 10 Betriebstage im Jahr. www.nordevall.com, varvet@nordevall.com
***) Wir waren dann nach dem Mittagessen Zeugen, dass sich die Geschichte von 1856 nicht wiederholte. Der Dampfer konnte die reguläre Station unbeschädigt und aus eigener Kraft erreichen.
Techn. Daten DS E. Nordevall
Werft Motala Verkstad, L 28,6 m, B 6,5 m, T 1,9 m, m 150 t, 2 Balancier-Dampfmaschine zu je 17 PS, v 13 km/h, 80 pax.
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