Lawinenschiffe und Seegfröni – von der Faszination Winterschifffahrt gestern und heute (Teil 2)
Viel Schnee erfreut viele Menschen, solange sie nicht mit Fahrzeugen oder zu Fuss unterwegs sind. Zu viel Schnee aber bedeutet Gefahren: In den Bergkantonen gehen Lawinen nieder und unterbrechen Verkehrsverbindungen, wie auch in diesem Winter. Das Schiff stellt dann in jenen Gegenden, wo steile Bergflanken in Seen abfallen, für die abgeschnittenen Ortschaften den Verbindungsweg zur Aussenwelt her. Dies ist hauptsächlich am Brienzersee rund alle 20 Jahre der Fall. Die Bergflanken fallen hier mit bis zu 1 800 m Höhendifferenz ab, sodass Lawinenverbauungen nicht möglich sind. Ernst Mischler wohnt am nah gelegenen Thunersee und kam in diesem und im Lawinenjahr 1999 zu aussergewöhnlichen Winterschifffahrten unter ganz speziellen Bedingungen:
Lawinen umschiffen
«Ende Januar 2021 war Oberried am Brienzersee einige Tage komplett von der Aussenwelt abgeschnitten, da wegen grosser Lawinengefahr sowohl Bahn wie Strasse auf beiden Seiten des Dorfes blockiert waren. In einigen Wildbachgräben am Brienzersee gingen Lawinen nieder, die in mindestens je einem Fall Bahn und Strasse verschütteten und zum Teil sehr nahe an bewohnte Gebiete kamen. Sehr rasch wurde für die Dorfbevölkerung eine Notverbindung mit dem BLS-Schiff Iseltwald eingerichtet, welche vom Donnerstag 28. bis Samstag 30. Januar 2021 funktionierte. Zudem wurde das Dorf Oberried auch mit Privatbooten von Iseltwald her mit Gütern versorgt und es wurden so auch Personen transportiert.
Diese Notverbindung erinnerte mich an den Lawinenwinter 1999, wo es im Februar zu einem kompletten Unterbruch auf beiden Uferseiten des Brienzersees kam1. Damals wurde zwischen Bönigen und Brienz ebenfalls eine Notverbindung mit dem Schiff Iseltwald eingerichtet, welche sehr stark gefragt war. Auch das im Jahr 1999 noch vorhandene Schiff Harder (heute Schwan Zugersee) beförderte auf dieser Strecke Güter.»
Ein anderer Lawinenzug führt bei der Schiffstation Seedorf in den Vierwaldstättersee. Auch in diesem Winter donnerte die Fischlauwi mehrfach ins Tal, der letzte Lawinenzug verschüttete die Strassenverkehrsader Richtung Isleten, Isenthal und Bauen, nachdem vorherige Niedergänge die dafür vorgesehenen Auffangbecken bereits aufgefüllt hatten. Bruno Arnold war mit den Pendlern mit an Bord des Versorgungsnauen Gotthard. Er berichtet in der Luzerner Zeitung vom 29. Januar darüber: «Die Kantonsstrasse zwischen Seedorf und Isenthal musste wegen eines erneuten Niedergangs der Fischlauwi gesperrt werden. Die Räumungsarbeiten konnten nicht sofort aufgenommen werden, da mit weiteren Lawinen gerechnet werden muss. Damit die Leute dennoch verkehren können, steht nun das Lastschiff Gotthard zwischen Isleten und Flüelen im Einsatz. Die Fahrgäste steigen beim «Kompany»-Areal der Firma Arnold und Co. in Flüelen ein. Sie nehmen in der geheizten Küche des Nauens Platz. Die mit Brot, Gemüse, Milch und weiteren Lebensmitteln gefüllten Boxen fahren ebenfalls mit. Die Frischprodukte werden im Dorfladen Isenthal benötigt. Sie sind um 6 Uhr nach Flüelen geliefert und dort auf den Nauen umgeladen worden.
An der Schiffstation Isleten warten 26 Passagiere, die an diesem regnerischen Freitagmorgen nach Flüelen müssen. Bevor Schiffsführer Balz Bricker mit der ‘Gotthard’ wieder Kurs Richtung Flüelen nimmt, hievt er zusammen mit den Matrosen Manuel Moreira de Paiva und Yves Poletti noch sechs mit 120 Litern frischer Milch gefüllte Kannen auf den Nauen.
Zwischen Isleten und Bauen verkehrt in diesem Corona-Winter nur ein einziger Schiffs-Kurs. Das Schiff verlässt die Station Isleten um 12.43 Uhr. Im Notfall kann ein privates Taxi-Boot angefordert werden. Matthias Steinegger, Betriebsleiter der Arnold und Co., spricht von einem unbürokratischen Handeln in der Nachbargemeinde. Der Chef des Gemeindeführungsstabs Seedorf habe ihn am Donnerstagvormittag kontaktiert. Am Abend um 18 Uhr hätten sie das Lastschiff Gotthard bereits erstmals für Material- und Personentransporte von Flüelen zur Station Isleten und um 18.30 Uhr wieder zurück nach Flüelen eingesetzt.
Ein Nauen ist natürlich nur eine Notlösung. Im Falle einer längeren Sperrung der Strasse könnte die ‘Kompany’ aber das MS Wilhelm Tell, das zurzeit eingewintert ist, kurzfristig für einen Einsatz startklar machen, sagt Steinegger, der auch als Verwaltungsratspräsident der Schifffahrt Urnersee AG amtiert. Das Lastschiff Gotthard verkehrt, solange die Strasse gesperrt bleiben muss. Den Leuten, die mit der ‘Gotthard’ pendeln, wird empfohlen, der Witterung angepasste Kleider anzuziehen, da es nur ein paar wenige gedeckte Plätze für die höchstens 40 Passagiere gibt.»
Seegfrörni legt Schifffahrt lahm
Bei Lawinenniedergängen kann also das Schiff ein rettendes Verkehrsmittel sein. Es gibt auch jene Fälle, wo ein harter Winter die Schifffahrt ganz lahmlegt, wie 1962/63. Anhaltende Bisenlagen mit tiefen Minustemperaturen und dies bereits ab Ende November 1962 hatten zur Folge, dass viele Mittellandseen zufroren. Kurt Brägger erinnert sich: „Das war ein spezielles Ereignis, ich war damals in der Lehre in Schmerikon. In der Mittagspause zog ich mir die Schlittschuhe an und machte eine Runde auf dem zugefrorenen Zürichsee. Die Kibag setzte ihr Dienstschiff Möve2 als Eisbrecher ein. Fast Tag und Nacht war das im Jahr 1889 von Escher & Wyss erbaute Schiff im Einsatz, um eine Fahrrinne zwischen ihren Werkstätten Bätzimatt am Linthkanal und dem Wohnort des Personals in Schmerikon offen zu halten. Ich habe die Bilder noch vor mir, wie die ‚Möve‘ jeweils mit Anlauf und voller Kraft auf das Eis krachte, um dieses zu brechen. Irgendwann funktionierte dies dann nicht mehr und man konnte zu Fuss oder gar mit Fahrzeugen hinüberfahren. Man erzählte damals, die ‚Möve‘ habe anschliessend geronnen wie eine Zeine3. An Sonntagen ging es dann ab Rapperswil per Schlittschuhen zur Insel Ufenau, denn dort gab es einen Maronistand, ein heiss begehrtes Ziel.“
Auch der Bodensee war damals zum ersten Mal nach 1880 wieder komplett zugefroren. Die folgenden Zitate stammen aus der Tageszeitung Südkurier4: „Bereits im November 1962 werden zwischen minus 5 bis minus 8 Grad Celsius gemessen. In der Folge sinken die Temperaturen weiter: Im Dezember mehrmals auf 10 bis 14 Grad unter null und im Januar 1963 während 15 Tagen auf minus 10 Grad und darunter. Schwache Luftbewegungen und ein sehr niedriger Wasserstand begünstigten die Eisbildung des Bodensees.
Am 23. Januar 1963 wird auf dem Überlinger See der Motorbootverkehr zwischen Ludwigshafen und Bodman eingestellt. Wenige Tage später, am 1.Februar, kommt dann auch der Bodensee-Schiffsverkehr zwischen Überlingen und Dingelsdorf zum Erliegen. Ab jetzt geht es Schlag auf Schlag: Am 3. Februar ist der Bregenzer Hafen zugefroren und am 5. Februar muss die DB den gesamten Schiffsverkehr auf dem Obersee einstellen. Einzig die Fähren zwischen Friedrichshafen und Romanshorn sowie zwischen Konstanz und Meersburg verkehren noch.
Tagelang kämpfen die Fährschiffe gegen das Eis an und verkehren auch nachts, um die Fahrrinnen im Eis offenzuhalten. Doch die Schiffe der Verbindung Konstanz-Meersburg müssen bald aufgeben: Am 7. Februar wird der Fährbetrieb auf dieser Strecke eingestellt. Die Bodenseeflotte steckt im Konstanzer Hafen in einem Eispanzer fest. Fähren gibt es jetzt nur noch zwischen Friedrichshafen und Romanshorn. Doch am 10. Februar kommt auch diese letzte Schifffahrtslinie auf dem Bodensee zum Erliegen.
Danach geht in Sachen Schiffsverkehr lange Zeit nichts mehr. Am 22. Februar versucht die Autofähre „Hegau“ von Konstanz aus das Eis aufzubrechen, muss aber bereits nach 400 Metern wieder umkehren. Erst als die Temperaturen im März wieder steigen, keimt langsam Hoffnung auf: In der Nacht zum 9. März werden im Raum Konstanz zum ersten Mal seit fast zwei Monaten Werte über dem Gefrierpunkt gemessen. Das Eis beginnt zu schmelzen.
Am 12. März unternehmen die Fährschiffe der Verbindung Konstanz-Meersburg erste Versuchsfahrten. Drei Tage später nimmt die Linie ihren Betrieb dann nach einer fünfwöchigen Zwangspause wieder auf. Am 17. März sind zwischen Konstanz und Meersburg auch wieder die Autofähre und die Schiffe der Bundesbahn unterwegs, gleichzeitig mit der Verbindung Friedrichshafen – Romanshorn.“
Vor 22 Jahren waren sowohl die links- wie die rechtsufrigen Verkehrswege am Brienzersee gesperrt. Dazumal verkehrte das Lawinenschiff in der Regel zwischen Bönigen und Brienz, hier im Bild zwischen Bönigen und Iseltwald.
Auch Brienz versinkt im Schnee, Aufnahme vom 10. Februar 1999.
Die «Iseltwald» nimmt in Brienz im Lawinenwinter 1999 zahlreiche Passagiere auf, die Richtung Interlaken fahren wollen. Wegen Tiefwasserstand konnte das Schiff nur bis Bönigen verkehren.
Die «Harder» besorgte den Warentransport; im Heckteil des Salons sind Pakete und Lieferwaren aufgestapelt (Doppelklick aufs Bild ermöglicht eine Detailansicht).
Wegen der verschütteten Bahnlinie bei Ebligen (östlich von Oberried) und der Sicherheitssperrung der Kantonsstrasse kam auch in diesem Winter das Lawinenschiff auf dem Brienzersee zum Einsatz.
Die «Iseltwald» fuhr in diesem Jahr zwischen Interlaken Ost und Oberried nach Fahrplan, im Bild bei Goldswil in der Aare Richtung Interlaken Ost.
Tiefliegende, dichte Wolken über Oberried verwandeln die Landschaft am Brienzersee in eine ungewöhnliche Szenerie (28.1.2021).
Medikamente, Güter für den Alltag und die Post nehmen für einmal den Seeweg.
Bilder im Textteil: Winterszene in Oberried 2021 (oben), wo am 29. Januar das Polizeiboot Personen von Iseltwald hergebracht hat und sie übers Schiff Iseltwald aussteigen liess und in Bönigen 1999 (unten).
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
3) Eine Zeine ist ein geflochtener Wäschekorb.
6) Haben auch Sie spezielle Winter- und Schnee-Erlebnisse im Zusammenhang der Schifffahrt zu erzählen? Ihre Geschichte würde uns alle freuen (siehe Kommentar).
Quellen
4) Auszüge aus dem Südkurier-Artikel vom 19. Dezember 2019 «Als kein einziges Schiff mehr fuhr»
5) Landbote vom 23.09.2014
Weiter im Text
1) Ernst Mischler fand zu beiden Ereignissen interessante Kurzfilm-Beiträge: Schweizer Fernsehen vom 10. Februar 1999 (Link), Telebärn-Beitrag vom 29. Januar 2021 (Link)
2) Die «Möve» ist nicht nur einer der wichtigsten Zeitzeugen für die Entwicklung der Lastschifffahrt, sondern auch das älteste Motorschiff auf dem Zürichsee. Das Schiff war auch als Passagierschiff unterwegs, wie der «Oberländer» in einem Artikel beschreibt5: «Erbaut wurde die ‘Möve’ 1889 von Escher Wyss Zürich. Das 16 Meter lange und 3,45 Meter breite Motorboot war damals mit einem Dampfantrieb ausgestattet. Eigner war die Chemiefabrik Gebr. Schnorf (heute CU Chemie Uetikon). Dort wurde die ‘Möve’ nicht nur für Warentransporte eingesetzt, sondern auch für den Personentransport. Am 2. Februar 1891 gaben die Gebrüder Schnorf per Plakat bekannt: ‘Von heute bis auf Weiteres wird unser Dampfboot Möve Personen zur Beförderung von Uetikon nach Wädenswil und zurück aufnehmen, jedoch ohne Verbindlichkeit. Taxe für die einfache Fahrt 50 Cts.’ In der Zeit zwischen 1891 und 1895 wurde sie auch als Postschiff eingesetzt.
Um 1895 kaufte der Schiffsbetrieb Obersee die ‘Möve’ und taufte sie auf den Namen Schmerikon, um bis zum Jahr 1914 Personen zu transportieren. Danach wurde sie von der Baggerei-Unternehmung Gebr. Helbling Schmerikon übernommen und bekam wieder ihren ursprünglichen Namen. Diese wiederum schloss sich 1926 mit den Gebr. Gassmann Bäch zur Kibag zusammen. Seither wird sie in erster Linie zum Schleppen von Prahmen (motorlose Schiffe) sowie Schwimmbaggern eingesetzt. Um mit dem technischen Fortschritt mitzuhalten, wurde die Dampfmaschine 1927 durch einen 3‑Zylinder-MWM-Dieselmotor ersetzt, womit die Leistung von 30 PS auf 60 PS verdoppelt werden konnte. 1954 wurde die Leistung durch den Einbau eines 4‑Zylinder-Benz-Motors auf 85 PS erhöht.
Eine wichtige Rolle spielte die Möve während der legendären Seegfrörni von 1962/63: Solange wie irgend möglich hielt sie die wichtigsten Seewege frei. 1966 wurde sie zum heutigen Schiff umgebaut: Sie erhielt einen 6‑Zylinder-GM-Dieselmotor mit 175 PS, einen neuen Bug, und der Originalrumpf wurde mit Stahlblech ummantelt. Seither ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen. Noch immer verrichtet die ‘Möve’ treu ihre Dienste auf dem Zürichsee als Rettungsboot, Schlepper und Eisbrecher, dient aber auch zur Versorgung der Feuerwerksschiffe, etwa am Züri-Fäscht, als Zubringer zum Kibag-Museum Bätzimatt und schleppt unter anderem auch die wohl allen Zürchern bekannte Herzbaracke von Spielort zu Spielort. Am 6. Juni 2004 war sie gar an der Rettung eines Sportflugzeugs beteiligt, das auf dem Flugplatz Wangen-Lachen über die Piste hinaus in den See geraten war».
Impressum
Bild 5 Zentralbahn, alle übrigen Bilder E. Mischler
Text H. Amstad
Danke an Hansueli Schneider, Mario Gavazzi (Teil 1), Ernst Mischler, Kurt Brägger und Marianne Riedle sowie Bruno Arnold (Teil 2) für die Beiträge
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