Letz­tes kom­mer­zi­el­les Flös­sen in Mit­tel­eu­ropa auf dem Ägerisee

Ein Floss ist ein ein­fa­ches Was­ser­fahr­zeug zur Beför­de­rung von Men­schen, Tie­ren oder Mate­rial; es ist aus schwim­men­den Mate­ria­lien zusam­men­ge­setzt. Beim Flös­sen besteht die­ses schwim­mende Gefährt aus lau­ter zusam­men­ge­bun­de­ner Nadel­höl­zer. Die­ses Floss sel­ber ist das Trans­port­gut, indem es die Holz­stämme über den See oder über Flüsse bringt. Die Flös­se­rei kannte der Mensch schon vor der Erfin­dung des Rades. Sie wurde welt­weit ein­ge­setzt. Ihren Höhe­punkt hatte sie in Europa vom Mit­tel­al­ter an bis in die zweite Hälfte des 19. Jahr­hun­derts: es war die wich­tigste und bil­ligste Trans­port­art für Stamm­holz. Städte und Dör­fer bezo­gen ihr Bau- und Brenn­holz aus den Nadel­wäl­dern eines Hügel- und Berg­lan­des. Die Indus­tria­li­sie­rung benö­tigte Unmen­gen an Holz1.

Das Flös­sen besitzt auch in der Schweiz eine lange Tra­di­tion. Erst durch das Auf­kom­men der Eisen­bahn, die dann den Trans­port von Holz über­nahm, ver­schwand es Ende des 19. Jahr­hun­derts immer mehr. Da die Aare viele Zuflüsse für Holz hat, wurde haupt­säch­lich auf ihr geflösst. His­to­risch belegt sind aber auch Fahr­ten vom Hin­ter- und Vor­der­rhein in Grau­bün­den bis in den Boden­see und nach dem Rhein­fall bis Basel und von da bis nach Hol­land. Orts­be­zo­gen über­lebte die Flös­se­rei zu gewerb­li­chen Zwe­cken bis ins 20. Jahr­hun­dert, so bis 1980 auf dem Bri­enz­er­see und sogar bis heute auf dem Ägersee.

Das letzte Flös­sen sei­ner Art

Rund all vier Jahre fin­det somit auf dem Äge­ri­see das letzte, über­ge­blie­bene Flös­sen statt. In die­sem Win­ter war es wie­der so weit: Förs­ter aus Unter- und Oberä­geri schlu­gen die Bäume vom Berg­wald, reis­te­ten die Stämme zu Tal und flöss­ten das Holz an das gegen­über­lie­gende Ufer des Äge­ri­sees. Ste­fan Rogen­mo­ser, Förs­ter aus Oberä­geri und Kom­men­ta­tor auf der Begleit­fahrt mit MS Äge­ri­see: „Der Äge­ri­see ist der ein­zige Ort in Mit­tel­eu­ropa (und wahr­schein­lich dar­über hin­aus), an dem das Flös­sen nicht nur als Tou­ris­ten­at­trak­tion, son­dern aus wirt­schaft­li­chen Grün­den betrie­ben wird.“ Der sehr steile Hang im Süd­os­ten des Äge­ri­sees und feh­lende Forst­wege für die not­wen­di­gen schwe­ren Forst­ge­räte wür­den einen Heli-Ein­satz erfor­dern. „Wir haben das durch­ge­rech­net: Der Ein­satz eines Heli­ko­pters stünde bei einem Preis von 200 Fran­ken pro Flug­mi­nute in kei­nem Ver­hält­nis zum Erlös des Holzes.“

Dass keine Forst­strasse gebaut wurde, wie über­all hier­zu­lande, hängt mit einem Streit zusam­men, der vor 200 Jah­ren die Gemü­ter von Unter- und Oberä­geri erhitzte. Der Floss­meis­ter Karl Heng­ge­ler erzählt: „Die bei­den Gemein­den konn­ten sich nicht eini­gen, wel­cher Teil des 55 ha gros­sen Berg­wal­des im Süden des Äge­ri­sees wem gehö­ren soll. Der Streit konnte mit dem Vor­schlag bei­gelegt wer­den, dass das Los ent­schei­den soll. Der aus heu­ti­ger Sicht glück­li­che Zufall wollte es dann, dass jener Wald, der näher bei Unterä­geri liegt den Oberä­ge­rer zuge­lost wurde und umge­kehrt.“ Seit­her sind die Besit­zer­ver­hält­nisse zwar geklärt, aber eini­gen auf eine Forst­strasse konn­ten sich die kon­kur­rie­ren­den Gemein­den dann trotz­dem nicht, weil sie sich das gegen­sei­tige Weg­recht nicht gaben.2

Die wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen am Berg­wald vom Äge­ri­see waren schon seit jeher gross. Ste­fan Rogen­mo­ser: „Im Durch­schnitt wächst in unse­ren Wäl­dern im Äger­ital um die 10 Fest­me­ter3 Holz pro Hekt­are und Jahr nach. Bei der letz­ten Voll­klu­pie­rung4 stellte man im Berg­wald einen Zuwachs von 16 Fest­me­ter pro Hekt­are und Jahr fest. Es ist so, dass im Berg­wald vor allem die Weiss­tanne eine sehr gute Per­for­mance hat.» Des­halb wird beim Ver­jün­gen des Berg­wal­des die Weiss­tanne spe­zi­ell gefördert.

Fäl­len, reis­ten, flössen

Feh­lende Forst­stras­sen zum einen, wirt­schaft­lich inter­es­san­tes Wuchs­ge­biet und der unschätz­bare Wert der Schutz­funk­tion, wo eine regel­mäs­sige Pflege not­wen­dig ist, erfor­dern ein ange­pass­tes Forst­we­sen – wie in «alten Tagen», wo die moto­ri­sierte und teil­weise auto­ma­ti­sierte Wald­wirt­schaft nicht mög­lich ist. Die 150 Bäume wer­den von Hand gefällt. Die gefällte Tanne wird dann ent­as­tet und an sei­ner dicken Stelle zu einer soge­nann­ten «Kugel» geformt. Der Wald ist im obe­ren Teil der­mas­sen steil, dass dann – mit der Kugel voran – die Stämme allein durch die Schwer­kraft in Run­sen, klei­nen Bäch­lein oder Gelän­de­rinn­sale von sel­ber Rich­tung See don­nern. Die­sen Vor­gang nennt man «reis­ten». Die «Kugel» ver­hin­dert Schä­den im Wald und ermög­licht in der Regel kein Ste­cken­blei­ben. Rogen­mo­ser: «Es gibt natür­lich Aus­nah­men, wo halt trotz­dem ein Baum ste­cken bleibt oder den Weg über­ra­schend ver­lässt und unter Umstän­den durch die Masse und Wucht ste­hende Bäume grad spal­tet oder gar durch­bohrt, so gewal­tig sind die Kräfte.» Kurz vor dem Ein­tau­chen der Stämme in den Äge­ri­see kom­men dann trotz­dem noch Maschi­nen zum Ein­satz. Die her­ab­don­nern­den Tan­nen­stämme boh­ren sich in den Wan­der­weg, der rund um den See ange­legt ist, ein und ste­cken fest. Ein Forst­schlep­per hebt die Stämme dann für die letz­ten fünf Meter ins Was­ser. Ele­gant wie ein Kopf­sprin­ger tau­chen sie dann ins Was­ser, um gleich dar­auf wie­der an die Ober­flä­che aufzusteigen.

Der Floss­meis­ter Karl Heng­ge­ler geht in vier Jah­ren in Pen­sion. Zehn Mal schon war er ver­ant­wort­lich für den Bau der Flosse und kennt die Fines­sen des tech­nisch anspruchs­vol­len Baues. „Die gewäs­ser­ten Stämme wer­den nach und nach mit Stahl­sei­len so zusam­men­ge­bun­den, dass auf der Was­ser­ober­flä­che ein Drei­eck ent­steht. Beson­ders lange Stämme fixie­ren die Holz­flä­che als Rah­men rings um das Drei­eck. Die Baum­spit­zen sind immer gegen die Floss-Spitze gerich­tet. Die Ecken des Flos­ses wer­den mit Gun­tel­ket­ten gesi­chert.“ Das rund 400 t schwere Floss wird mit die­ser Kon­struk­tion nach Fer­tig­stel­lung mit zwei Fischer­boo­ten back- und steu­er­bord­seits des Drei­eckes mit je 20 und 40 PS auf über den See gescho­ben – und nicht gezo­gen. „Die Manö­verier­bar­keit ist so viel prä­zi­ser und das Floss lässt sich leicht steu­ern wie ein Schiff mit dem Ruder“, weiss Heng­ge­ler aus Erfah­rung. Die Geschwin­dig­keit des Äge­ri­see-Flös­sens beträgt etwa 1 km/​h, die Distan­zen nach Oberä­geri betra­gen 1,5 km, jene nach Unterä­geri 2,5 km.5

In vier Jah­ren wieder

Das Floss hat heuer 550 m3 Holz mit einem Masse von 400 Ton­nen6; auf dem See schwim­men 150 Tan­nen und Fich­ten, im Volks­mund Weiss­tanne und Rot­tanne genannt. Dabei sucht man ver­ge­bens die Buche, denn ihr spe­zi­fi­sches Gewicht liegt über 1 kg/​dm3, womit es nicht schwim­men kann. Der grösste Stamm misst in die­sem Jahr 49 m und hat einen Meter Durch­mes­ser. In Oberä­geri wer­den die 150 Stämme auf 22 40-Tön­ner Last­wa­gen gela­den, bis in 14 Tagen der Spuk vom Äge­ri­see-Flös­sen wie­der für vier Jahre aus dem Bild des Äger­ita­les ver­schwun­den ist.

Das nächste Holz­reis­ten durch den Berg­wald und das Flös­sen wird im Jahr 2025 Karl Heng­ge­ler das letzte Mal mana­gen. Ste­fan Rogen­mo­ser: „Bis dann müs­sen andere die­ses Hand­werk ler­nen, will die Tra­di­tion des letz­ten, kom­mer­zi­el­len Flös­sens wei­ter­hin betrie­ben wer­den.“ Beim Fäl­len der Bäume, Reis­ten und Flös­sen kom­men Gerät­schaf­ten zum Ein­satz, wie sie vor 30 Jah­ren üblich waren und heute sonst ver­schwun­den sind. Der Habe­g­ger7 zum Bei­spiel erlebt so alle vier Jahre wie­der sei­nen «tech­ni­schen» Früh­ling. Werk­zeuge wie Zapine8 («Zapeye»), Gun­tel­ket­ten, Flös­ser­ha­ken kom­men in den Ein­satz, die sonst heut­zu­tage in der maschi­nen-domi­nier­ten Wald­wirt­schaft bloss nost­al­gi­sche Gefühle auslösen.

150 Bäume wur­den im Okto­ber im Berg­wald von Hand gefällt und in den Äge­ri­see gereis­tet. Dort war­ten sie, zu einem Floss zusam­men­ge­zurrt, auf den Abtransport.

Sowohl am Reist­tag wie auch am Flöss­tag konn­ten Inter­es­sierte dem sel­te­nen Gesche­hen an Bord der „Äge­ri­see“ beiwohnen.

Am „Bug“ des Flos­ses haben die Förs­ter ein Feuer zube­rei­tet und fei­ern die „Ernte“ mit einer Zigarre, gebra­te­ner Wurst und Kaffi Schnaps.

Das Floss bewegt sich mit rund 1 km/​h in Rich­tung Oberä­geri, im Hin­ter­grund der Bergwald.

Das Hand­werk des Flös­sens wird von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion wei­ter übermittelt.

Zahl­rei­che Zuschauer emp­fan­gen das Floss mit Applaus und einem Volksfest.

Kom­men­ta­tor Ste­fan Rogen­mo­ser von der Kor­po­ra­tion Oberä­geri und AeS-Kapi­tän Marco Iten sorg­ten für eine inter­es­sante Begleit­fahrt mit dem MS Ägerisee.

Bil­der im Text­teil: Auch das MB Mor­gar­ten (III) beglei­tet das Floss über den Äge­ri­see (oben). Das Sich-Fort­be­we­gen auf dem Floss ist nicht ohne Gefah­ren, da die ein­zel­nen Stämme bloss in einem Rah­men zusam­men­ge­hal­ten, aber in sich lose sind. Der Förs­ter kennt die Stelle auf dem Stamm, wo er sein Fuss set­zen kann und benutzt zusätz­lich sei­nen Flös­ser­ha­ken als Balancierstange.

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Am Schluss des Blogs ist Ihr Kom­men­tar willkommen.

Hin­weise

1) Ent­spre­chend wur­den die Wäl­der geplün­dert und radi­kal abge­holzt. Das führte in der Schweiz zu Natur­ka­ta­stro­phen. Das hatte wie­derum dann 1876 zur Folge, zum rigo­ro­ses­ten Wald­ge­setz der Welt, das bis heute Gül­tig­keit hat.

2) Die poli­ti­sche Gemeinde Unterä­geri gibt es seit 1798 – frü­here Sied­lun­gen nannte man Wilä­geri oder Wilen. Als das Spinn­e­rei­ge­werbe anfangs 19. Jahr­hun­dert mit zahl­rei­chen Arbeits­plät­zen und somit neuen Sied­lun­gen auf­ka­men, betrie­ben neu beide Ort­schaf­ten ihre eigene Flös­se­rei. Erst im Jahr 2004 schlos­sen sich die bei­den Kor­po­ra­tio­nen wie­der zu einem gemein­sa­men Holz­schlag am Berg­wald und somit zur Flös­se­rei zusam­men. Heute wird zwi­schen den bei­den Ort­ge­bie­ten abge­wech­selt. Wird Holz des Gebie­tes Oberä­geri geschla­gen, flösst man die­ses zum See­platz im Ort. Ist Holz aus Unterä­geri an der Reihe, wird das Floss zum Bir­ken­wäldli gefah­ren und zusätz­lich noch auf Fluss­reise auf der Lorze bis ins Dorf­zen­trum wei­ter­ge­führt, wo es dann aus dem Was­ser kommt. Wegen dem sehr tie­fen Was­ser­stand musste des­halb das in die­sem Jahr geschla­gene Unterä­ge­rer Holz nach Oberä­geri geflösst wer­den. So kamen die Oberä­ge­rer zum „Hand­kuss“, das Unterä­geri Holz zu emp­fan­gen, was mit einem zünf­ti­gen Volks­fest mit weit über 1000 Zuschauer am 6. Novem­ber gefei­ert wurde.

3) Fach­aus­druck in der Wald­wirt­schaft für den Kubik­me­ter (m3)

4)

5) Bis 1999 führ­ten den Kor­po­ra­tio­nen ange­hö­rige Bau­ern diese Arbei­ten durch, um sich damit einen Neben­ver­dienst zu sichern. Seit dem 21. Jahr­hun­dert sind es lokale Forst­ar­bei­ter, die das tra­di­tio­nelle Hand­werk ausführen.

6) Ste­fan Rogen­mo­ser: „Die Rekord­menge an Holz war im Jahr 2011 zu ver­zeich­nen mit 1 350 m3 und rund 1000 t Masse.“

7) Ist ein Zug­werk­zeug, namens­ge­bend durch die Firma Habe­g­ger, Thun

8) Ein Zapin (Dia­lekt Zen­tral­schweiz Zapeye) – auch Sap­pel, Sappl, Sapin oder Gries­beil genannt – ist ein Hand­werk­zeug in Gestalt einer Spitz­ha­cke, die dem manu­el­len Bewe­gen von Holz in der Forst­wirt­schaft dient.

Quel­len

• Daniel Vischer „Schiffe, Flösse und Schwemm­holz“ Link / • Flös­ser­ver­ein Zürich Link

Impres­sum

Bil­der 1 bis 3 sowie 6 A. Buss­lin­ger, Text und übrige Bil­der H. Amstad

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