MS Thurgau fährt als Impfschiff zur seiner Seebevölkerung
Zum Geoschiff auf dem Walensee, zum Briefmarkenschiff auf dem Zugersee, zum Lawinenschiff auf dem Brienzersee und zu vielen kulinarischen Themenschiffen gesellt sich ein neues Angebot und sorgt für eine für die schweizerische Bodensee-Flotte willkommene Diversifizierung. Kein geringerer als der Bundesrat Alain Berset eröffnete am 2.2.2021 das erste und bislang einzige Impfschiff des Landes. Die Idee ist so einfach wie innovativ, wie der Gesundheitsminister bei der Eröffnung sagt: «Ich habe ein neues Wort gelernt. Impfschiff, das habe ich vorher nicht gekannt.» Fondue- und Spaghettischiff seien ihm bereits ein Begriff gewesen.
Das Schiff Thurgau1 fährt mit den Impfdosen gegen das Corona-Virus von Hafen zu Hafen – zu den Leuten im Kanton Thurgau. Der Impfstoff sei zwar knapp, nicht aber die mediale Resonanz. «Das Impfschiff wirft hohe Wellen. In Print und online sind bisher über 150 Artikel mit dem Stichwort Impfschiff und MS Thurgau erschienen,» weiss der Informationsbeauftragte des Kantons Thurgau, Thomas Walliser, zu berichten. Ein Schiff, auf dem geimpft wird: Das sei so spektakulär, dass gar israelische und amerikanische Journalisten dafür angereist seien. Und auch Bundesrat Alain Berset.
Fränzi Sallmann, Leiterin des Impfschiffes, empfängt mich auf der schwimmenden Praxis und zeigt sich begeistert: „Ein schönerer Arbeitsort als hier auf MS Thurgau kann man gar nicht haben.“ Die Atmosphäre an Bord ist locker, ja sogar fröhlich. Das Betreuungsteam ist aufgestellt und unkompliziert. Es scheint, dass die eintretenden Impfwilligen sich von der Stimmung des nautischen Intérieurs anstecken lassen. Wegen der hohen Kadenz, wo alle fünf Minuten gespritzt wird, sind die Abläufe gut organisiert. Es herrscht an Bord ein emsiges Treiben, denn oft werden die bislang über 75-Jährigen begleitet durch Verwandte oder Freunde. Hektik aber kennt man nicht an Bord.
Ein Rundgang durchs Schiff
Im Einstieg der „Thurgau“ empfängt die Securitas die Impfkandidaten und machen einen ersten Check. Zuerst wird geprüft, ob die Person einen Termin hat. «Wer keinen hat, wird wieder heimgeschickt.» In der ersten Runde können ausschliesslich Personen ab 75 Jahren sowie Leute, die auf Grund chronischer Krankheiten einen schweren Verlauf einer Covid-Erkrankung befürchten müssen, sich auf der «Thurgau» impfen lassen. Laufzettel auf Klemmbretter liegen auf Tischen bereit – das Impfen ist wie ein Postenlauf. Die Person mit einem Termin geht mit dem Klemmbrett unter dem Arm steuerbord-seits in den Hauptdeck-Vordersalon.
Beim bunten Wandgemälde ist der eigentliche Empfang mit zwei Schaltern eingerichtet, wo das Administrative erledigt und letzte Anweisungen und Aufklärungen erteilt werden. Vorne im Salon sind zwei Kojen installiert worden, wo durch einen rückwärtigen Vorhang abgetrennt das Impfen in den Oberarm vorgenommen wird. Nach 10 Sekunden ist der Spuck vorbei und der «Patient» geht nach dem Piks mit dem Pflästerli auf dem Oberarm und seinem Laufzettel backbord-seits in den hinteren Hauptdeck-Salon. Noch 15 Minuten bleibt die Person dort unter ärztlicher Beobachtung. Hier wird die Frage geklärt: Treten Nebenwirkungen wie Übersein, Kopfschmerzen oder Schüttelfrost auf? Eine Ärztin beobachtet und steht für Fragen bereit. Dann wird die schwimmende Impfstation wieder verlassen, die Meisten mit einem grossen Smile im Gesicht.
Auf dem Oberdeck sind analog zum Hauptdeck vorne ebenfalls zwei Kojen mit einer massiven Holz-Mittelwand eingebaut worden. Dort, wo sich sonst die Glacé-Station befindet ist das Lager der Impfdosen und des medizinischen Materials. Auf der Steuerbordseite, wo sonst eine Art Bar mit hohen Stühlen ein beliebter Aussichtsplatz bietet, ist ein Labor eingerichtet. Eine weitere Fachperson in steriler Vollmontur bereitet die Impfportionen vor. Im Oberdeck-Restaurant befindet sich auch das Büro der Impfleiterin und der Pausenraum des medizinischen Personals. Im Heckbereich des Salons sind Umkleidekabinen und Garderoben eingerichtet. Fränzi Sallmann: „Die Impfcrew besteht aus sieben Person, davon eine Ärztin, fünf Pflege-Fachpersonen und ich als Leiterin, die alle temporär angestellt sind. Zusätzlich unterstützen uns zwei Securitas-Angestellte in den Bereichen Sicherheit, Eintrittskontrolle und Desinfizierung des Materials und des Schiffes.»
Wie sind die Erfahrungen? Fränzi Sallmann: „Die Abläufe funktionieren reibungslos, die Leute sind sehr zufrieden und schätzen diesen Service.“ Das Schiff „ankert“ im Februar zuerst eine Woche in Romanshorn, zwei Wochen in Kreuzlingen und eine Woche in Arbon, bevor dann im März das ganze Prozedere für die 2. Impfung wiederholt wird2. In der ersten Woche haben während fünf Tagen im Fünfminutentakt 869 Personen in Romanshorn ihr Vakzin auf dem Schiff erhalten. Es wird der Impfstoff des US-Herstellers Moderna verabreicht. «In Kreuzlingen geriet das Impfen ins Stocken, weil zu wenig Dosen geliefert werden,» gibt Sallmann zu bedenken. «Wir konnten dann in diesen zwei Wochen an bloss vier Tagen rund 660 Personen impfen.» Auch in Arbon reicht der Impfstoff nicht für das volle Programm: «Wir impfen hier statt den ganzen Tag nur zwischen 12.00 und 19.00 Uhr.» Es gibt also noch Luft nach oben.
Gibt es dann im April und Mai eine zweite Runde für weitere Bevölkerungsgruppen? Fränzi Sallmann: «Das ist noch nicht entschieden und hängt davon ab, ob genügend Impfstoff vorhanden ist.» Und wieso bedient die «Thurgau» nicht gleich die Hafenstadt Rorschach? Die Leiterin des Impfschiffes erklärt dies damit, dass dort der Kanton St. Gallen zuständig sei. Sie hat Verständnis für dieses Vorgehen: «Die Impfstrategie sowie die Abläufe sind kantonal. Das fängt bei der Lieferung an und hört bei der unterschiedlichen Software der Kantone auf.» Damit könne die schon genug anspruchsvolle Logistik schlanker und klarer gestaltet werden.
Schwieriges Thema Shutdown und Schifffahrt
Der SP-Magistrat Berset lobte bei der Eröffnung des Impfschiffes den Kanton Thurgau. Das Impfen sei Realität geworden, sagte der Bundesrat. Realität sei auch, dass die Fallzahlen sinken, sagte Alain Berset bei der Medienorientierung im frisch sanierten Kornhaus am Romanshorner Hafen. Einige der Werte lägen so tief wie nie mehr seit Oktober. Eine andere Realität ist, dass die weiterhin verordnete Schliessung von Restaurants verheerende Auswirkungen haben auf viele andere Branchen wie Tourismus, Schifffahrt, individuellen Sportaktivitäten usw.
Die sehr lange Schliessung bedeutet nicht nur, dass die Bars, Quartierbeizen und Gourmettempel keinen Umsatz haben. Es bedeutet auch, dass auf der über fünf-stündigen Schifffahrt zwischen Luzern und Flüelen kein einziger Kaffee geschweige denn ein warmer Teller serviert wird, bedeutet, dass der Thunersee deswegen den ganzen Winterverkehr einstellen musste, bedeutet, dass die beliebten Sonntagfahrten mit den Radschiffen auf dem Genfersee festsitzen. Notabene betrifft die Schliessung Bereiche, wo die Ansteckungsgefahr auf den Schiffen fast null ist und die Schutzkonzepte sehr gut eingehalten werden können. Die Schifffahrt und die Gastrobetriebe scheinen zum Bauernopfer geworden zu sein, um dem Druck der übrigen Branchen nachgeben zu können.
Corona und Schifffahrt ist ein schwieriges und belastetes Wortpaar3. Zugegeben: Es gibt auch andere Branchen, die unter der Pandemie resp. unter den behördlichen Massnahmen, wie man mit dieser umzugehen hat, leiden. Beim Shutdown vom März bis Anfang Juni 2020 war das Verständnis über das teilweise Stilllegen des öffentlichen Lebens noch vorhanden, weder Virologen noch Politiker wussten, wohin uns dieser Virus führt und was er mit uns macht. Dies war im Oktober anders – man holte aber die alten Instrumente des Frühlings wieder aus der Mottenkiste. Nun warten wir gespannt auf die nächste Entwicklung. Entscheidungen werden in einem vielfältigen Spannungsfeld gefällt: die Coronamüdigkeit der Bevölkerung, der längst fällige Einbezug von sozialen und psychologischen Folgen der Einschränkungen sind in Einklang zu bringen mit dem Druck vom Ausland und den Empfehlungen der Virologen.
Festbeflaggung am Eröffnungstag des Impfschiffes in Romanhorn am 2. Februar 2021
Fränzi Sallmann leitet das Impfschiff und sorgt für einen reibungslosen Ablauf und für eine angenehme Stimmung an Bord.
Nach der Einlasskontrolle durch die Securitas gelangen die Probanden zum eigentlichen Empfang, wo der Ablauf und letzte Fragen geklärt werden.
„Der nächste bitte“… links und in der Mitte des vorderen Hauptdeck-Salons sind die zwei Impfkojen eingerichtet.
Ein 10-Sekunden-Piks mit schöner Aussicht aufs Wasser und hier im Bild auf Arbon
Am Schluss des „Postenlaufes“ empfängt die Ärztin die Geimpften für einen 15-miütigen stationären Beobachtungsaufenthalt.
Das Impfschiff liegt im Naturhafen Kreuzlingen am Pier und empfängt die hiesigen, über 75-jährigen Impfwilligen. Für die Jüngeren hat es noch zu wenig Impfstoff.
Winterschifffahrt in Arbon einmal anders…, im Hintergrund Rorschach.
Bilder im Textteil: 1) MS Thurgau im Wintereinsatz am 21. Februar 2021, Heimkehr aus Kreuzlingen in den Heimathafen Romanshorn. 2) Nach einem Bunker- und Versorgungshalt geht’s gleich weiter nach Arbon. 3) Das schwimmende Impfzentrum auf dem Bodensee unterwegs.
4) Fränzi Sallmann erklärt zu diesem Bild: «Die Fachfrau im Labor zieht den Impfstoff aus der Ampulle (auch Vial genannt) in Spritzen auf. In einer Ampulle befindet sich Impfstoff für 10 Impfdosen. Da der Impfstoff sehr empfindlich ist, darf man ihn nicht schütteln und muss ihn deshalb vorsichtig aufziehen.»
5) 15 Minuten medizinische Überwachung im Hecksalon auf dem Hauptdeck
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
1) Das MS Thurgau ist das Schiff mit der längsten Geschichte in der Flotte der Schweizerischen Bodensee Schifffahrt SBS. Das 89-jährige alte Motorschiff (1932) zählt zusammen mit ihrer Schwester «Zürich» (Baujahr 1933) zur ersten Generation der grossen Motorschiffe und ist nach wie vor sehr beliebt bei den Fahrgästen. Erfreulicherweise trägt die SBS zu diesen Schiffen Sorge und investiert regelmässig in den Unterhalt der beiden Oldtimer.
2) MS Thurgau «ankert» für die erste Impfstoffdosis vom 2. bis zum 6. Februar 2021 in Romanshorn, vom 8. bis zum 20. Februar 2021 in Kreuzlingen und vom 22. bis zum 27. Februar 2021 in Arbon. Die Termine des Impfschiff für die zweite Impfstoffdosis lauten: 1. – 6. März 2021 in Romanshorn, 8. – 20. März 2021 in Kreuzlingen und 22. – 27. März 2021 in Arbon.
3) Weitere Widersprüche in der Bewältigungsstrategie der Pandemie ergeben sich aus der Ungleichbehandlung des öffentlichen Verkehrs gegenüber Mischformen. Bis vor der Pandemie war es klar, dass die meisten der Schweizer Flotten ein Teil des öffentlichen Verkehrs sind. Entsprechend sind – mit wenigen Ausnahmen wie die Basler Personenschifffahrt – Halbtaxabo und GA gültig, die Fahrpläne im nationalen Netz integriert und Kostenlücken durch kantonal geregelte Abgeltungen (oder Betriebsbeiträgen) kompensiert wie bei Bahn, Bus und Bergbahnen. Rechtlich brisant wurde es nach Auskunft von Juristen, die Schifffahrt während Monaten einzustellen, während Bahn und Bus weiterfahren dürfen. Viele Kantone sprachen somit den Status der Schifffahrt als öffentliche Erschliessungsfunktion ab, dies im Widerspruch zum oben erwähnten Kontext. Besonders krass gingen die Kantone Luzern (mit der öV-Schifffahrt Luzern – Weggis/Vitznau) und Uri (Linie Treib – Brunnen) vor und stellten sie im Frühling ganz ein. Andere wie der Kanton Zürich (Greifensee und Fähre Horgen – Meilen), Tessin (Lago Maggiore), Waadt (Genfersee) oder St. Gallen (Walensee) liessen die Schiffe weiterhin fahren.
Impressum
Bilder 1 bis 3 im Textteil M. Fröhlich
Text und übrige Bilder H. Amstad
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