Rei­se­be­richt: Adieu MS Cygne – das erste Neu­en­burger Motor­schiff ver­ab­schiedet sich stürmisch

Am heu­tigen Sonntag, 28. November, heisst es für das Neu­en­burger MS Cygne das letzte Mal «Leinen los» als Pas­sa­gier­schiff. Nahezu 60 Gäste der Rei­se­or­ga­ni­sa­toren der Dampf­er­zeitung und der Schiffs-Agentur werden Zeugen einer ein­drück­lichen und stür­mi­schen Abschieds­fahrt. Damit der Oldie der „Société de Navi­gation sur les lacs de Neu­châtel et Morat SA“ (LNM genannt) auch von aussen genossen werden kann, begleitet uns ein zweites Schiff, die „Ville d‘Estavayer“ auf der Fahrt von Neu­enburg zur Peter­s­insel und zurück.

Sébastien Jacobi, der grosse Kenner der Juraseen-Schiff­fahrt: „Die Bekanntgabe, dass dieses Schiff ausser Betrieb genommen würde, war ein Schock für mich.» Ich fragte ihn weiter nach der Bedeutung dieses Schiffes: „Die benach­barte Schiff­fahrts­ge­sell­schaft auf dem Bie­lersee BSG übernahm beim Beschaffen von Motor­schiffen hier­zu­lande eine Vor­ei­ter­rolle. So besass sie 1933 bereits vier Motor­schiffe und nur noch ein Dampf­schiff, die ‚Berna‘. Die LNM hatte zu dieser Zeit hin­gegen noch vier Dampf­schiffe in Betrieb: DS Hallwyl, Yverdon, Neu­châtel und Fri­bourg. Erst 1939 beschaffte sie ihre ersten Motor­schiffe, näm­liche die ‚Cygne‘ und die ‚Mouette‘.“

Motor­schiffe der Dreissigerjahre

Auch der Schiffs­his­to­riker Jürg Meister bestätigt die aus­ser­ge­wöhn­liche Rolle der „Cygne“: „Aus­gelöst durch die Ratio­na­li­sie­rungs­mass­nahmen auf dem Bie­lersee kamen auch in Neu­enburg Ende der Dreis­si­ger­jahre erste Gedanken auf, Motor­schiffe bauen zu lassen. Auf­grund der guten Erfah­rungen mit den BSG-Schiffen Seeland (1932) und Jura (1933) und in Anlehnung an das Vor­gehen der Schiff­fahrts­ge­sell­schaft Untersee und Rhein (URh) mit ihren Booten Munot und Are­nenberg (beide 1936) kam es zu einer Anschluss-Bestellung für zwei Schwes­tern­schiffe bei der Bodan­werft in Kress­bronn. Kurz vor dem Aus­bruch des zweiten Welt­krieges kamen die beiden robusten Schiffe 1939 in Betrieb. Leider machte der akute Treib­stoff­mangel die ange­strebte Ratio­na­li­sierung bis ins Jahr 1947 zunichte. Die neuen Schiffe mussten längere Zeit untätig im Hafen herumliegen.“

Die „Cygne“ lief am 20. Juni und die “Mouette“ am 19. August von Stapel. Die bau­gleichen Schiffe boten für je 250 Per­sonen Platz. Der Rei­se­teil­nehmer und Schiffs­kenner Beat Zum­stein widmete sich auf der Abschieds­fahrt dem Inte­rieur der „Cygne“ und meinte: „Dieses Schiff hat die ursprüng­liche Innen­aus­stattung ver­loren. Sie wies damals eine aus­ser­ge­wöhn­liche Gedie­genheit und Eleganz auf und war für die Bauzeit der Schiffe typisch. Die Raum­ein­teilung wurde hin­gegen über all die Jahr­zehnte bei­be­halten.» Auf der «Cygne» ist als Abwei­chung vom Ursprungs­zu­stand im hin­teren Salon auf der Steu­er­bord­seite der geschlossene Vorraum durch ein offenes Buffet ersetzt worden. Im vor­deren Salon ist das im Plan ein­ge­zeichnete Buffet an der Rückwand heute nicht mehr vor­handen, ana­ly­siert Zum­stein. Und Jacobi ergänzt: «Das Buffet im vor­deren Salon der ‘Cygne’ gab es von 1939 bis etwa 1960. In diesem Zeit­punkt wurde auch das vordere Fenster ange­bracht und die ele­ganten Fau­teuils, Tische und Sofas leider durch Bänke ersetzt. Später wurden die Bänke durch Stühle ausgetauscht.»

Die Stamm­route: Neu­enburg – Yverdon

Zu Beginn der „Cygne“-Karriere besorgte das Schiff den Kurs Neu­enburg – Yverdon (ab 09.40 Uhr und 16.15 Uhr)1. Von 1965 bis 2002 war dann die „Cygne“ während der Som­mer­saison in Yverdon sta­tio­niert und machte zwei Mal im Tag den Kurs nach Estavayer, wo jeweils ein Schiffs­an­schluss Richtung Neu­enburg gewähr­leistet war2. Der Hin­ter­grund dieses Wechsels des „Hei­mat­hafens“ war 1965 die Inbe­trieb­nahme der „Ville d’Yverdon“; die Bäder­stadt enga­gierte sich an der Finan­zierung des neuen, namen­ge­benden Schiffes und ver­langte im Gegenzug, das künftig in Yverdon ein Schiff sta­tio­niert bleibt. 2003 ersetzt die „Idée Suisse“ die „Mouette“, die nach der Aus­ran­gierung nach London auf die Themse gelangt. Die „Idée Suisse“ ersetzt in der Folge die „Cygne“ in Yverdon-les-Bains.

Die „Cygne“ kehrt 2006 bis 2009 wieder nach Yverdon zurück, bevor die LNM beschliesst, ab 2010 (bis 2016) kein Schiff mehr in Yverdon über­nachten zu lassen. Die „Cygne“ kommt nun nach Murten für den Lokal­verkehr und im Sommer für die Rund­fahrten zum Einsatz. Am Ende der Saison 2011 fällt der „Cygne“ noch eine zwei­fel­hafte Ehre zu: Sie führt am 10. Dezember (vor dem Fahr­plan­wechsel) die aller­letzte Win­ter­ver­bindung im Tri­angel Neu­châtel – Por­talban – Cud­refin aus. Damit endet die fast 150-jährige Tra­dition, dass das Schiff ganz­jährig die gegenüber lie­genden See­ge­meinden von Neu­enburg mit einer öV-Ver­bindung erschliesst. In den letzten Jahren stand die „Cygne“ als Reser­ve­einheit im Einsatz und kam 2019 zu einem län­geren Gast­spiel zurück nach Yverdon. 2020 und 2021 gingen die Ein­sätze stark zurück, da auch covid­be­dingt viel weniger Char­ter­fahrten statt­fanden und so kaum ein Reser­ve­schiff benötigt wurde. Am 28. November 2022 nun beendet die «Cygne» seine Funktion als Pas­sa­gier­schiff der LNM.

Was mit dem Schiff genau pas­siert, ist noch unklar. Es kann sein, dass die LNM in ihrem 150-jäh­rigen Fir­men­ju­biläum das Schiff 2022 in irgend­einer Form brauchen werden, aber ohne Per­so­nen­trans­porte. Von ihrer Schwester Mouette hin­gegen weiss man mehr. Dieses Schiff fand nach der Aus­ran­gierung 2003 unter dem Kom­mando des neuen Eigners Wolfgang Steck ihren Weg nach London, wo sie von 2004 bis 2019 auf der Themse in der Nähe der Albert Bridge im Trend-Quartier des Cadogan Pier zu sichten war. Sébastien Jacobi steht mit dem Schiffs-Eigner in Kontakt und berichtet: «MS Mouette war im Sommer 2019 auf der Lon­doner Werft Eel Pie Slipways zum tech­ni­schen Untersuch. Es wurden keine gra­vie­renden Mängel fest­ge­stellt und der Rumpf mit drei Lagen fri­scher Farbe ver­sehen.» Brexit ver­trieb das Schiff aus England: So fuhr die «Mouette» im Juni 2020 aus eigener Kraft über den Kanal und liegt nun in Brügge (Bruges), Belgien.

Wind und Regen begleiten nau­tische Leckerbissen

Unsere Fahrt unter dem Titel „Adieu MS Cygne“ führt von Neu­enburg durch den Zihl­kanal zur Peter­s­insel im Bie­lersee. Der heutige Tag erinnert mich lebhaft an eine andere Abschieds­fahrt aus dem Jahr 1995: Am 17. Dezember hiess auf dem Vier­wald­stät­tersee Abschied nehmen von der „Wald­stätter“ II, dies bei ähn­lichen Wet­ter­ver­hält­nissen wie heute. Beim sechs­stün­digen Anlass mit Älp­ler­ma­gronen vom Schiffs­re­stau­rateur Edwin Schmidli an Bord gab es ähn­liche Schnee­ge­stöber und Windböen. Unsere heutige Abschieds­fahrt war so angelegt, dass wir den andern zwei Pas­sa­gier­schiffen, die am heu­tigen November-Sonntag noch unterwegs waren, begegnen konnten. Als erstes erwies uns die „Peter­s­insel“ im Zihl­kanal mit einem herz­haften Horn­konzert die (Abschieds-) Ehre, wo uns trotz miss­lichem Wetter alle Fahr­gäste der BSG-Drei­seen­fahrt mit Zuwinken begrüssten. Auf dem Bie­lersee ange­langt gesellte sich die eben­falls his­to­rische „Chas­seral“ (1960, eben­falls Bodan-Werft) zu den beiden LNM-Schiffen. Auf ihrem Kurs von Erlach via La Neu­veville fuhren sie dann zu dritt auf die Peter­s­insel zu und sorgten so für eine win­ter­liche Miniparade.

Die etwas vom Westwind und Schnee­regen-Treiben mal­trä­tierten Fahr­gäste genossen dann nach dem Schiffs­wechsel bei der Ländte Peter­s­insel-Nord die Wärme, den Kaffee und den Apfel­kuchen auf dem zweiten Schiff: für die einen neu auf der „Cygne“, für die andern auf der „Ville d’Estayayer“. Schöne For­ma­ti­ons­fahrten der beiden Kapitäne Lionel Huguenin auf der „Cygne“ und Fred Jean­monod auf der „Ville d’Estavayer“, eine besonders gelungene Par­al­lel­fahrt der beiden Schiffe im Zihl­kanal (ver­mutlich eine Pre­mière!) und wech­selnde For­ma­tionen gingen fast ein bisschen „unter“ hinter beschla­genen Fens­ter­scheiben und bei ange­regten Gesprächen. Je länger die Fahrt, umso sel­tener wurde die Anzahl jener Fahr­gäste, welche sich auf das offene Oberdeck wagten. Diese aber erlebten trotz Schnee­regen und Sturm ein­malige Stim­mungen und Bilder – zum Bei­spiel vom in den Wellen „stamp­fenden“ Par­al­lel­schiff, span­nenden Licht­ver­hält­nissen und eine Brise Nord­see­feeling. Die 82-jährige „Cygne“ ver­ab­schiedet sich in Würde und wir uns von ihr.

MS Cygne ver­lässt zum letzten Mal mit Pas­sa­gieren den Hafen von Neuenburg.

Lionel Hugenin fällt die Ehre zu, als Kapitän die letzte Cygne-Fahrt mit Fahr­gästen ver­ant­worten zu dürfen.

Mit dem Begleit- und Foto­schiff Ville d’Estavayer wird es möglich, den an Bord ange­bo­tenen Brunch covid­be­dingt mit viel Platz für die rund 60 Fahr­gäste zu ermöglichen.

Teil­nehmer Beat Zum­stein kom­men­tiert: «Der West­sturm zeigte, dass die ‘Cygne’ und die ‘Ville d’Estavayer’ trotz ihren beschei­denen Abmes­sungen gute See­schiffe sind: Sie sind mit ihrer nied­rigen Bau­weise und dem geringen Tiefgang neben dem Einsatz auf offenen Gewässern für die Fahrt auf Flüssen und Kanälen ausgelegt.»

Schnee­treiben im Zihl­kanal mit ein­ma­ligem Konvoi der beiden LNM-Schiffe

Mit Kaffee und Kuchen und Blick auf die 82-jährige Cygne geht’s zurück zum Hei­mat­hafen Neuchâtel.

Span­nendes Foto­sujet mit der «Cygne»-Unterfahrt der Rothaus-Zihl­brücke (Linie Bern-Neuenburg)

Stür­mische Fahrt ins Unge­wisse, MS Cygne kurz vor Neuenburg

Bilder im Textteil: Aus­fahrt der «Cygne» aus dem Hafen Neu­en­burgs, wo das Bild von erstaunlich vielen Schiffen das Herz der Nau­tiker erfreut; ent­spre­chend sind wenig Ein­heiten in der Werft stationiert.

Inter­es­sante Ver­gleiche von der ersten (links) und letzten (rechts) Cygne-Fahrt: Die Struktur des Schiffes blieb 82 Jahre lang erhalten und mit der Fest­be­flaggung hatte man auf beiden Fahrten etwas Mühe…

Kleine Win­ter­parade mit den drei Bodan-Schiffen Chas­seral, Ville d’Estavayer und Cygne

Stim­mungs­volle Par­al­lel­fahrt im Zihlkanal

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Am Schluss des Blogs ist Ihr Kom­mentar willkommen.

Hin­weise

2) Oft war das Schiff in dieser Zeit im Win­ter­halbjahr im Tri­angel-Verkehr ein­ge­setzt und kann so als «Schwer­ar­beiter» zum Bei­spiel im Jahr 1962 auf 279 Betriebstage und 28 500 km.3

Quellen

1) Ben­jamin Gross-Payot „Bateaux sur les lacs de Neu­châtel et Morat“ 2018 (Link)

3) Claude Zwei­acker “Le M/S Cygne arrive à bout de course” www​.bulcom​.ch 10.12.2022

Impressum

Bilder 1 und 5, G. Weber, Bild 2 im Textteil Archiv B. Zum­stein (Revue tech­nique Sulzer N0. 3 1940, S. 22), Bild 3 im Textteil R. Lutz/​E. Mischler

Text und übrige Bilder H. Amstad

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