Reisebericht: Fahrt mit dem vor 60 Jahren geretteten DS Piemonte auf dem Lago Maggiore
In der Nordschweiz kommt Föhn auf und dadurch trübt sich das Wetter im Tessin ein. Ungetrübt hingegen ist die Stimmung der 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Tag unseres Reiseangebotes «Lago Maggiore: einzigartige Fahrt mit DS Piemonte und dem Fotoschiff» vom 2. Oktober. Die zahlreich geschossenen Fotos brauchen zwar etwas «Aufhellung», denn die Belichtungssensoren messen in erster Linie das herbstliche Grau der tiefhängenden Wolken. Wir brauchen aber keinen Regenschirm und gegen Arona zu gab es am Abend sogar ein paar Sonnenstrahlen zu sichten.
Joao Rocha, Kapitän und Betriebsleiter vor Ort sowie René Untersee, Verwaltungsrat und Sekretär der Eigentümerschaft vom MS Katjaboat1, begrüssen uns in Locarno im gemütlich-maritim eingerichteten, lichtdurchfluteten Salon unseres «Fotoschiffes». Beide Herren sind in der Schweizer Schifffahrtszene keine Unbekannten. Joao Rocha war vor 2018 während 18 Jahren Betriebs- und Personalleiter der Luganersee-Schifffahrtsgesellschaft SLN und kennt sich im «Management» von Schiffen aus. René Untersee leitete von 1981 bis 2014 die SNG (St. Niklausen Schiffgesellschaft) in Luzern und machte in diesen Jahren mit interessanten Flottenergänzungen (wie z.B. mit dem Zukauf des MS Salomon Landolt vom Greifensee) das Unternehmen wirtschaftlich fit.
Die Geschichte mit dem Katjaboat
Das Boot entspricht nicht dem gängigen Bild eines klassischen Schiffes. Obwohl es alles bietet, was der Fahrgast braucht, ist seine äussere Form gewöhnungsbedürftig. Ein Reiseteilnehmer meint: «Es ist eigentlich ein schwimmender Ponton». Ist man einmal an Bord, überrascht ein heller Fahrgastraum mit guter Akustik. Eine multifunktionale Bar mit kleiner Küche und abwechslungsreiches (Lounge-) Mobiliar lädt zum «Chillen» ein. Das Oberdeck bietet Aussicht, Schatten- und Sonnenplätze. Kommt das Schiff in Fahrt, wird es durch einen 50 kW-Elektromotor angetrieben. Auf mich wirkt es wie eine lahme Ente. Für unsren Zweck aber ist es eine ideale Plattform, zumal die uns entgegenfahrende «Piemonte» vor Locarno stoppt, damit wir den Raddampfer gemütlich umrunden können.
René Untersee erzählt uns zuvor, wie es zu diesem Katjaboat kam: «Bis 2014 sorgte der legendäre ‘Capitano Roby’ mit einem gelben Passagierboot für Attraktionen und auch Aufsehen in Locarno.» Roberto Bottani, wie Capitono Roby mit bürgerlichem Namen hiess, erkämpfte beim Kanton Tessin den Neubau eines Steges, nachdem er sein Schiff bislang an einer Boje hatte. Auf der Suche nach einer Finanzierung dieses Steges kam er in Kontakt mit Peter Eltschinger, Gründer und Hauptaktionär der Remimag2. Eltschinger kam dann auf René Untersee zu mit dem Anliegen, das Projekt technisch zu unterstützen. Untersee hatte mit dem Bau der neuen SNG-Anlage in Luzern entsprechende Erfahrungen sammeln können.
«Leider wurde dem alten MS Katjaboat inzwischen die Betriebsbewilligung entzogen,» weiss Untersee zu berichten. Ein neuer Steg ohne Schiff? «Eine Ersatzbeschaffung stand nun ebenfalls zur Diskussion; die touristische Attraktion sollte weiter bestehen.» Im Spätsommer 2015 gründet Peter Eltschinger die Katjaboat SA und erteilte den Auftrag zum Bau eines Steges, eines Fahrgastschiffes und eines Mini-Katjaboat für Roby zwecks Bedienung der Strände mit Glacé’s und Getränken. Am 18. April 2016 erfolgt die Einwasserung des neuen Steges, vier Monate später jene des neuen Katjaboats3. Untersee: «Das Schiff – wie auch vorher den Bootssteg – baute die Werft von Günter Müller Stahlbau in Spessart, welche auch die Schiffswerft Mittelrhein besitzt. Das MS Katjaboat wurde aber in Spessart gebaut und auf dem Landweg zum Lago Maggiore gebracht.» Mitte Juni 2017 kommt es dann unter lautem Medienrauschen zur Trennung der AG vom ehemaligen Capitano Roby.
DS Piemonte – ein Yeti unter den Dampfschiffen?
Nach dem Verzehr einer «Tessiner Platte» heisst es Leinen los, der «Piemonte» entgegen. Lange ist der Raddampfer nicht zu sehen, «ob er wohl noch kommt?» machten sich einige Sorgen. Plötzlich sticht der Dampfer hinter dem Maggiadelta von Ascona kommend hervor und bald darauf steht er, kaum den Fotoapparat gezückt, schon vor uns. Wie ein Shootingstar wird der noch einzig übriggebliebene Raddampfer des Lago Maggiore tausendfach von oben nach unten, von vorne und hinten, backbord- und steuerbordseits abgelichtet. Ein langer Hornstoss kündigt nun die gemeinsame Einfahrt in den Hafen von Locarno an. Dort angekommen wechseln wir nun die Szene und besteigen das 117-jährge Schiff.
Unter der Reisegruppe machten sich unter anderem drei österreichische Dampferfreunde mit ihren Ehefrauen auf den weiten Weg nach Locorna, so auch Gunter Mackinger, Seineszeichen Autor zahlreicher Schifffahrtsbücher. Er meint: «Der Raddampfer Piemonte hatte sich in den letzten Jahrzehnten bei vielen Dampferfreunden den Ruf eines Yeti erworben – unter dem Motto ’angeblich gibt es ihn, aber gesehen hat ihn noch keiner.’ So wurde das Dampfschiff Piemonte für uns zu einer Art Sehnsuchtsort – ein Mythos ähnlich jener der ‘Gisela’ auf dem Traunsee, der ‘Karim» auf dem Nil oder der ‘Waverlwy’ in der Nordsee. Oft war man um die halbe Welt gereist um ein bestimmtes Objekt der Begierde, manchmal unter schwierigen Umständen auszukundschaften und damit auch zu fahren. Oft erlebte man Glücksmomente, wenn das gesuchte Schiff zur gewünschten Zeit tatsächlich am Steg anlegte. Oft wurde man aber auch enttäuscht und die Reise war vergebens aber niemals umsonst! Aber heute am 2. Oktober steht es real vor uns, das ‘Phantom’ Piemonte.»
Erster geretteter Raddampfer in Europa
Die viertündige Fahrt nach Arona gibt Gelegenheit, uns etwas genauer mit der Geschichte dieses originellen und in vieler Hinsicht einzigartigen Raddampfers zu befassen. 1903/04 erbaut die Firma Escher Wyss in Zürich diesen Salondampfer unter dem Namen „Regina Madre“. Das Schiff verkehrt im Kursdienst regelmässig zwischen Arona und Locarno. 1943 erfolgt aus politischen Gründen die Umtaufe in „Piemonte“, weil der bisherige royalistische Name mit der Bezeichnung der Königsmutter im inzwischen faschistisch regierten Italien nicht opportun ist.
Bis kurz vor 1960 verkehren auf dem Lago Maggiore noch drei Raddampfer: die „Lombardia“, „Italia“ und „Piemonte“. Sie werden Ende der Fünfzigerjahre fast nur noch für Sonderfahrten eingesetzt, neue Motorschiffe haben sie aus dem Kursdienst verdrängt. Der südeuropäische Schifffahrtskenner Mario Gavazzi: «1961 legte die staatliche italienische Schifffahrt auf dem Lago Maggiore die letzten drei Raddampfer still. Sie entschied aber, DS Piemonte zu erhalten. Nach vier Jahren Totalrevision kam das Schiff im Mai 1965 wieder in Dienst. Es ist somit das erste in Europa, das als Zeuge der Dampfschifffahrt im aktiven Dienst erhalten bleibt. Sie soll bewusst als technik-geschichtliches Denkmal weiter fahrtüchtig bleiben. Die originale Dampfmaschine von 1904 bleibt erhalten.»
Im Gegensatz dazu bot der Luganersee ein Trauerspiel; Gavazzi weiss zu berichten: «Gestern vor genau 60 Jahren, am Sonntag, 1. Oktober 1961, am Festa della Vendemmia, dem Winzerfest, war der letzter Einsatz von DS Italia. Damit endete die Dampfschifffahrt auf dem benachbarten Ceresio, wie der Luganersee auch genannt wird. Das letzte Dampfschiff wird anschliessend verschrottet.»
Zurück zum Lago Maggiore: Die inzwischen verstaatlichte Navigazione Lago Maggiore rettet nicht nur die «Piemonte», sondern auch die «Lombardia»; dieses Schiff wird verkauft und steht heute als schwimmendes Restaurant mit Bar in Arona, allerdings ohne Maschine. Der dritte im Bund, die „Italia“, wird hingegen verschrottet.
Am 21. Mai 1965 findet die festliche Wiedereinweihung von DS Piemonte in Arona statt. Sie läuft mit Behördenmitgliedern und Gästen (u.a. vom Transportministerium in Rom) zur dreistündigen Einweihungsfahrt aus. In den folgenden Jahren verkehrt die „Piemonte“ im Sommer regelmässig den Kurs Arona – Locarno und zurück. Auch touristische Rundfahrten (teilweise auch ab Locarno-Ascona) werden angeboten. Nach 1969 machen die Tragflügelboote geschwindigkeitsmässig und neue Motorschiffe platzmässig zusehends Konkurrenz zur «Piemonte». Der Raddampfer verkehrt zunehmend nur noch auf Rundfahrten und im Charterdienst. 2001 geht DS „Piemonte“ in eine fünfjährige Revision und manch ein Dampferfreund sieht dazumal aufgrund der langen Absenz das Ende der Dampfschiff-Ära auf dem Langensee.
20 Betriebstage im 2021
Doch die «Piemonte» kehrt im Mai 2006 zurück. Während zwei Sommerfahrplanperioden verkehrt sie an Sonntagen ab Arona auf je zwei mehrstündigen Rundfahrten. Der mässige Erfolg dieser Angebote führt zum Entscheid, nur noch Extrafahrten auf Bestellung durchzuführen; eine Ausnahme bildet die Silvester-Neujahrsfahrt 2010/11 ab Arona. Seit einigen Jahren hingegen ist das Schiff in der Vorsaison jeweils auch zu Ausbildungszwecken während einige Wochenenden im Kurseinsatz, wie zum Breispiel vom 28. Bis zum 30. Mai 2021. Das Schiff kommt in diesem Jahr zu erfreulichen 20 Betriebstagen, die meisten davon unangekündigt.
Die heutige Piemonte-Fahrt möglich gemacht, hat Urs von der Crone. Der ehemalige Davoser Gymnasiallehrer, wohnhaft im Tessiner Dof Maggia, hat den Dampfer heute gechartert und damit 110 Personen von Arona nach Locorno und 150 Leuten von Locarno nach Arona eine grosse Freude bereitet. Es war nach 2016 seine bereits vierte und wie er mir sagte vermutlich auch seine letzte Charterfahrt mit der «Piemonte». «Generell ziehe ich mich eher zurück und werde – mit meinen nun 70 Jahren – bei meinen Unternehmungen etwas abbauen. Entscheidend wird sein, ob sich eine grössere Gruppe meldet, die mir eine Grundauslastung sichert, damit ich das finanzielle Risiko auf mich nehmen kann.»
Lassen wir zum Abschluss diesen Tag mit den Worten von Gunter Mackinger ausklingen: «Pünktlich wurden die Anlegestellen Stresa und Arona erreicht und damit rund 70 km an Bord des italienischen Raddampfers mit Schweizer Wurzeln zurückgelegt. Nach mehr als 4 Stunden Fahrt – diese vergingen wie im Flug – hiess es in Arona wieder von Bord zu gehen. Der Abschied fiel uns schwer, denn wer weiss, wann und ob ich jemals wieder eine Fahrt mit diesem Schiff erleben kann. Dass der Rücktransfer per Bus nach Locarno dank der generalstabsmässigen Planung vorzüglich klappte und alle SBB-Anschlüsse erreicht wurden, versteht sich von selbst. Die österreichische Delegation kehrte hoch zufrieden, voll der schönen Eindrücke in ihre Alpenrepublik zurück und kann hiermit bestätigen – es gibt sie wirklich, die ‘Piemonte’ am Lago Maggiore.»
DS Piemonte begrüsst mit einem langen Pfiff Locarno und unser Fotoschiff, …
… das nun den 117-jährigen Raddampfer umkreist.
Betriebsleiter João Rocha und Verwaltungsrat René Untersee erzählen den Werdegang von MS Katjaboat.
Der Raddampfer verlässt nun wieder Locarno und nimmt Kurs Italien mit den nächsten Reisegruppen von Dampferfans wie die unsrige.
DS Piemonte fährt seit 15 Jahren ohne ihre majestätischen grossen Masten herum; der kleine Ersatz ist zum Funktionsmasten degradiert.
Vorbei an Locarno, den Brissagoinseln und den Borromäischen Inseln erreicht die «Piemonte» nach vier Stunden Fahrt via Stresa ihren Heimathafen Arona.
Blick in den vorderen Hauptdecksalon…
… und einen auf den Maschinenstand mit der Dampfmaschinenexpertin Claudia Wick und den Maschinisten Fabio Ernandes (im Hauptamt Leiter Werft und Unterhalt de Langenseeflotte) und Matteo.
Bilder im Textteil: Kunstvoll gestaltete Treppentrittleiste aus dem Hause Escher-Wyss mit Patina
Der 1960 bis 1964 neu gestaltete Hecksalons auf dem Hauptdeck
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
1) Der Name Katja stammt vom ehemaligen Capitano Roby bzw. dessen Tochter. Inzwischen gibt es ein weiteres Katjaboat (III) für 12 Personen Fassungsvermögen. René Untersee: „Nebst dem grossen Katjaboat betreibt die Katjaboat SA auch noch ein kleines Boot. Es handelt ich hier um ein handelsübliches Pontoonboot, welches für unsere Zwecke speziell gestaltet wurde. Dieses Boot ist als kleines Fahrgastschiff zugelassen bis 12 Passagiere. Es funktioniert auch als Taxi-Boot. Im Weiteren bedient dieses Boot im Sommer die umliegenden Strände sowie verankerten Boote mit Glacé’s, Softgetränken, Bier, Wein oder Prosecco. Diese Dienstleistung ist äusserst beliebt und auch bekannt. Das Boot operiert normalerweise von Locarno aus, ist jedoch durch seine Tätigkeit oft auch an anderen Orten anzutreffen.»
2) Die Rechte für den Namen gehört der heutigen «Katjaboat SA» (SA ist die italienische Bezeichnung einer Aktionengesellschsaft AG). Die Katjaboat SA ist domiziliert in Rothenburg/LU und ist eine Tochtergesellschaft der Remimag Gastronomie AG. Die Remimag betreibt gegen 30 renommierte Restaurants in der Zentralschweiz, Zürich, Bern und Basel.
3) MS Katjaboat: 2016, Werft Müller Metallbau Spessart, L 19.95 m, B 5.60 m, m 55 t leer, 65 t beladen. Volvo-Motor mit Generator 100 kW (Gen-Set), Antrieb Elektro-Motor vertikal direkt auf Antrieb (Ruderpropeller Fabrikat Kalkmann/NL), Motorenleistung 50 kW, je 4 m3 Tanks für Frischwasser und Fäkalien und 1 Tank 2,6 m3 für Diesel. Schiff wurde für 100 Personen gebaut, zurzeit eingelöst für 60 Fahrgäste.
Weiter im Text
„Andrea Keller: Mit der „Piemonte“ in die Pension, ein Dampfertag auf dem Lago Maggiore» vom 22. Oktober 2017 Link
Impressum
Bild 2 Cl. Wick, Bilder 4 bis 5 M. Fröhlich, Bild 1 im Textteil M. Zürcher
Text und übrige Bilder H. Amstad
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