Rei­se­be­richt: Mit dem Schiff auf Ent­de­ckungs­fahrt – auf der Lena, am Ende der Welt (Teil 1)

So weit und so lange war die Schiffs-Agen­tur noch nie mit einer Rei­se­gruppe unter­wegs. Rei­se­be­richte der Schiffs­freunde Erika und Andreas Wer­ner sowie Marco Biseg­ger, die alle schon an die­sem gott­ver­las­se­nen Ort Schiffs­rei­sen unter­nom­men hat­ten, lies­sen den Plan rei­fen, eine der spe­zi­ells­ten Schiff­fahr­ten der Welt aus­zu­schrei­ben – nach Ost­si­bi­rien. Bei der Zusam­men­ar­beit mit unter­stüt­zen­den Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen wies man uns im Vor­feld immer wie­der dar­auf hin, dass eine gewisse Fle­xi­bi­li­tät und die Bereit­schaft, einen Hauch von Aben­teuer ein­zu­ge­hen, not­wen­dig und das Schiff nicht mit west­li­chen Stan­dards zu ver­glei­chen sei. Um es vor­weg zu neh­men: Aben­teuer gab‘s tat­säch­lich, das Schiff über­raschte aber mit einem rei­nen Retro Look sowie sehr gutem Ser­vice. Die nau­ti­schen Erleb­nisse und die Land­schaf­ten waren schlicht einzigartig!

Drei Tage Akkli­ma­ti­sie­rung in Jakutsk, der Haupt­stadt der teil­au­to­no­men Repu­blik Sacha (Jaku­tien), über­brü­cken den Jet­lag, denn die Zeit­ver­schie­bung zur Schweiz beträgt plus acht Stun­den. Auch wegen des unum­gäng­li­chen sie­ben­stün­di­gen Nacht­flu­ges ab Mos­kau ist unsere neun­köp­fige Rei­se­gruppe froh, bald nach Ankunft ein ers­tes Mal ein Schiff bestei­gen zu kön­nen, um den Kopf durch­zu­lüf­ten und einen ers­ten Ein­druck des Stro­mes Lena zu erhal­ten. Unser „Aus­flugs­damp­fer“ heisst Mari­na­gard und ist als Arbeits­schiff mul­ti­funk­tio­nell ein­setz­bar, mal schleppt es Platt­for­men durch die ver­schie­de­nen Häfen, mal dient es als Ver­sor­gungs­schiff und heute ist es für uns als Tou­ri­damp­fer unterwegs.

Die Haupt­stadt von Jaku­tien liegt am lin­ken Len­aufer im Tuj­maada-Tal und ist mit 300 000 Ein­woh­nen die grösste Stadt der Welt, die aus­schliess­lich auf Per­ma­f­rost­bo­den gebaut ist. Auch im Hoch­som­mer, der dank dem kon­ti­nen­ta­len Klima doch drei Monate dau­ert und die Tem­pe­ra­tur gegen 30 Grad anstei­gen lässt, taut die Erde ab zwei Metern unter der Ober­flä­che nie auf. Im sechs Monate dau­ern­den Win­ter kann es gut und gerne minus 60 Grad kalt wer­den. Die Eis­de­cke der Lena gefriert dann bis zu zwei Metern Dicke, die Flotte der Lena-Ree­de­rei und andere Schiffe ste­hen dann von Ende Sep­tem­ber bis zur Eis­schmelze Ende Mai still und der Strom wird zur Fahr­strasse für LKWs.

Die Lena als Lebensader

Die Gross­stadt Jakutsk hat eine beschei­dene Infra­struk­tur. Ihr Bahn­hof mit der Linie nach Tynda mit Anschluss an die Trans­si­bi­ri­sche Eisen­bahn liegt rund 23 km strom­auf­wärts am andern Ufer der Lena. Auto­fäh­ren pen­deln nach Fahr­plan mit 16 Kurs­paa­ren von mor­gens um 6.00 bis abends 23.20 Uhr. Die Fäh­rean­le­ge­stel­len befin­den sich zwi­schen gros­sen Sand­hau­fen im Nor­den von Jakutsk. Wich­tigste Hafen­in­fra­struk­tur ist ein Bull­do­zer. Er schort den Len­asand jeweils so auf die Seite, dass eine Anfahrts­piste für die Fahr­zeuge geschaf­fen wird, um die seit­lich des Schiffs befind­li­che Rampe befah­ren zu kön­nen. Der Höhen­un­ter­schied des Was­ser­stan­des zwi­schen dem Tau­wet­ter Ende Mai und vor dem ers­ten Zufrie­ren Ende Sep­tem­ber beträgt nor­ma­ler­weise sie­ben Meter, sodass sai­so­nal bedingt die „Fäh­re­s­ta­tio­nen“ regel­mäs­sig der sich wech­seln­den Zufahrts­si­tua­tion ange­passt wer­den müs­sen. Putin plane eine Stras­sen- und Eisen­bahn­brü­cke süd­lich von Jakutzk, erzäh­len uns die Ein­hei­mi­schen. Doch die jaku­ti­sche Bevöl­ke­rung sei vehe­ment dage­gen, schie­ben sie nach. Drin­gen­der scheint ihnen, dass die Stadt mehr Geld für Stras­sen, Schu­len und Ener­gie­ver­sor­gung bekomme.

Wir benüt­zen diese Fähr­ver­bin­dung am drit­ten Rei­se­tag, um den Buluus-Glet­scher zu besu­chen, ein fas­zi­nie­ren­des Käl­te­tal, wo der flach­lie­gende, rund vier Meter dicke Firn auch im Hoch­som­mer nicht weg­schmilzt und das abflies­sende Was­ser Minia­tu­ren von Glet­scher­spal­ten und Firn­bä­chen bil­det. Unsere „Parom 9“ löscht über 40 Fahr­zeuge und legt um 8.40 Uhr für die andert­halb Stun­den dau­ernde Über­fahrt nach Nizni Best­jach ab. Auf der Rück­fahrt gera­ten wir vor der Fähre in den hier bekann­ten Sonn­tags­tau, kilo­me­ter­lang stauen sich die Fahr­zeuge hin­un­ter zur Lena. Wir haben Glück: Die ange­peilte Kurs­fähre wird dop­pelt geführt; im Gegen­satz zur deso­la­ten Infra­struk­tur funk­tio­niert die Orga­ni­sa­tion per­fekt. Der voll­be­legte Schub­ver­bund RT 456 bringt uns am Abend nach einer Stunde Fahrt zurück zum Stadtufer.

Zwei Kor­neu­burg-Schiffe im Retro Look

Wir neun Eid­ge­nos­sen der Rei­se­gruppe Schiffs-Agen­tur bestei­gen am vier­ten Rei­se­tag erwar­tungs­voll das Drei­deck­schiff Michail Sle­tov – zusam­men mit 93 andern Gäs­ten aus acht Natio­nen, haupt­säch­lich aus Russ­land, Deutsch­land, Schwe­den, Neu­see­land und der Schweiz. Gleich nach dem spe­di­ti­ven Ein­che­cken haben wir die Gele­gen­heit, im impro­vi­sier­ten Hafen* von Jakutsk das Schwes­ter­schiff Dem­jan Bedny ken­nen zu ler­nen. Der erste Offi­zier und stell­ver­tre­tende Kapi­tän Vic­tor And­je­ri­t­sch begrüsst die Schwei­zer Dele­ga­tion freund­lich und führt uns durch sein Schiff: „Von die­sem Kor­neu­burg-Schiffs­typ gibt es nur noch fünf, zwei davon hier auf der Lena**.“ Sein Schiff fährt in die­sem Som­mer drei Mal in der Woche von Jakutsk zu den Lena­fel­sen, zwei­mal in einem 36-Stun­den­trip und ein­mal übers Wochen­ende wäh­rend 46 Stun­den. Damit ersetzt das Schiff den frü­he­ren Dampf­schiff­kurs der „Kras­no­jarsk“.***

Die „Dem­jan Bedny“ ist weit­ge­hendst im Ori­gi­nal erhal­ten geblie­ben. And­je­ri­t­sch: „Wir ach­ten dar­auf, die Ori­gi­na­li­tät des Schif­fes zu erhal­ten und dazu Sorge zu tra­gen. Nur die Tep­pi­che, die Matrat­zen und die Aus­sen­mö­bel sind seit dem Bau­jahr von 1985 ersetzt wor­den.“ Bei der Füh­rung durch das ganze Schiff bestä­tigt sich, dass es ganz dem heu­ti­gen Hype des Retro Looks ent­spricht. Auch unser Lokal­guide Ivan kommt ins Schwär­men: „Das ist ja unglaub­lich, da sehe ich Filme von James Bond und Stan­ley Kubrick, höre die Musik von Elton John, Madonna, Stevie Won­der, Bob Dylan und Michael Jack­son.» Das glei­che gilt auch für das Schwes­tern­schiff, wie wir am Abend nach dem Los­fah­ren der „Michail Sle­tov“ fest­stel­len können.

Wie ein Naturwunder

Schön, dass aus­ge­rech­net auf der 16-stün­di­gen Fahrt süd­wärts zu den Lena-Fel­sen uns das Schwes­ter­schiff Dem­jan Bedny beglei­tet, mal hin­ter uns, mal vor uns. Es ist ein ers­ter Rei­se­hö­he­punkt. Die aus dem Kam­brium stam­men­den Fel­sen lie­gen in einem Natur­park, der 1995 gegrün­det wurde und 4 850 km² gross ist. Die­ser steht seit 2012 unter dem Patro­nat des UNESCO Welt­na­tur­er­bes. Bereits früh am Diens­tag­mor­gen, an unse­rem fünf­ten Rei­se­tag, beglei­ten uns unzäh­lige, bis 300 Meter hohe Fels­türme. In Jahr­mil­lio­nen haben Wind, Sonne, Frost und das Was­ser der Lena aus dem wei­chen Sand­ge­stein bizarre Fels­for­ma­tio­nen freigemeisselt.

Aus­ge­spro­che­nes Wet­ter­glück beschert uns beim Auf­stieg auf die Fel­sen zwar man­che Schweiss­per­len, doch die Fern­sicht auf den Strom und die Land­schaft ist atem­be­rau­bend schön. Als sich dann nach Abfahrt des Schif­fes um 20.00 Uhr die ganze Per­len­kette der 80 km lan­gen For­ma­tion noch bis Mit­ter­nacht in der unein­ge­schränk­ten Abend­sonne prä­sen­tiert, ver­färbt sich die Kulisse rot und die Fel­sen ver­wan­deln sich in ver­stei­nerte Feu­er­zun­gen. Ich sage mir: „Bereits jetzt hat sich die ganze Reise gelohnt, komme, was wolle.“

Erste Lena-Aus­fahrt für unsere Rei­se­gruppe auf der «Gar­de­ma­rin» durch den Güter­ha­fen von Jakutsk, des­sen Bild geprägt wird durch gestran­dete grosse Fracht­schiffe, die heute vor sich hin rosten.

Bis zu sechs sol­che impro­vi­sierte Anle­ge­stel­len die­nen in Jakutsk (und in Nizni Best­jach) dem moto­ri­sier­ten Ver­kehr, um mit Fäh­ren ans andere Lena-Ufer zu gelan­gen. Für nicht­mo­to­ri­sierte Fahr­gäste pen­deln kleine Schnell­boote vom Zen­trum der Stadt (Hafen Nr. 2 auf der Karte) zum Bahnhof.

Das heu­tige schwim­mende Pas­sa­gier­ter­mi­nal (grü­nes Gebäude) dient der Abfer­ti­gung der Schnell­boote zum Bahn­hof und für die Trag­flü­gel­boote im Lokal­ver­kehr. Zum All­tag gehört der Zu- und Abstieg direkt vom Ufer aus, hier auf dem Bild bestei­gen wir die «Dem­jan Bedny» für eine Besichtigung.

Die zwei Schwes­tern sind welt­weit die ein­zi­gen der gan­zen Bau­se­rie, die seit den Acht­zi­ger­jah­ren ihr Aus­se­hen und ihr Inte­ri­eur behal­ten haben; im Bild die «Dem­jan Bedny» auf einer Par­al­lel­fahrt in Rich­tung Lena-Felsen.

Die bei­den Schwes­ter­schiffe legen am Fuss der bizar­ren Lena-Fel­sen an, die über Lei­tern und impro­vi­sierte Stege erreicht wer­den können.

Die Rezep­tion der «Michail Sle­tov» ver­mit­telt einen ers­ten Ein­druck bezüg­lich Innen­ar­chi­tek­tur aus den Achtzigerjahren.

Schwere Leder­ses­sel, in dun­keln Far­ben gehal­te­nes Design und stets üppige Decken­ge­stal­tun­gen prä­gen den heute wie­der belieb­ten Retro Look.

Auf der sen­sa­tio­nel­len Abend­fahrt glei­ten wir wäh­rend vier Stun­den an rot-glü­hen­den Fels­for­ma­tio­nen vorbei.

Bil­der Text­teil: Der Fluss ist an sei­ner engs­ten Stelle 2 km, an sei­ner brei­tes­ten Stelle 40 km breit, hier der Blick von den Lena-Fel­sen stromabwärts.

Hafen 1 -> Anle­ge­stel­len der Auto­fäh­ren zum Bahn­hof (26 km); Hafen 2 -> Anle­ge­stelle der Trag­flü­gel­boote und der drei Lena­flot-Hotel­schiffe; Hafen 3 -> Anle­ge­stelle des Arbeits­schif­fes Gar­de­ma­rin und der loka­len Güterschiffe

Text und Bil­der H. Amstad

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Hin­weise

*) Das in den Sech­zi­ger­jah­ren erbaute Hafen­ge­bäude für Pas­sa­gier­schiffe wurde in der Ära Jel­zin an einen Pri­vat­mann ver­kauft und rot­tet seit­her vor sich hin. Der kata­stro­phale Eis­gang im Mai 2001 zer­störte einen Gross­teil der Quai Anla­gen, die bis heute nicht repa­riert sind. Seit­her dient eine Platt­form einer aus­ran­gier­ten Fähre als An- und Abfahrt­stelle für zwei Schiffe der Lenaflotte.

**) Die andern drei Schiffe die­ser Kor­neu­burg-Serie sind im Gegen­satz zu den bei­den Lena-Schif­fen stark umge­baut wor­den: Die „Ser­gej Yesenin“ (Ober­deck umge­baut, anstelle des Kino­saa­les Luxus­ka­bi­nen, Hei­mat­ha­fen Mos­kau), die „Alex­an­drij Blok“ (heute „Alex­an­der Grin“ mit nach­träg­lich erstell­tem 4. Deck, Hei­mat­ha­fen Mos­kau) und „Vale­rij Brju­sov“ (zur Zeit in der Stadt Kimry an der Wolga, war­tet auf Renovation).

***) Über den Rad­damp­fer Kras­na­jorsk ist bereits ein Blog­text erschie­nen: Link. Heute ist der Rad­damp­fer abge­stellt und soll nach Aus­kunft der Schiffs­leute ein „Denk­mal“ wer­den, das an das Rad­dampf­zeit­al­ter erin­nern soll.

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