Reisebericht: Von der Taiga in die Tundra und Arktis, Schiffserlebnisse auf der Lena (Teil 2)
Die Lena-Flussreise fühlt sich bisweilen an wie eine Seenfahrt oder eine Meereskreuzfahrt, je nachdem, ob der Fluss 2 oder 40 km breit ist und das Ufer felsig steil abfällt oder sich flach im Horizont verliert. Hellbraune, kilometerlange Sandstrände, die in den blauen Himmel übergehen und trutzige Felswände, deren Spitzen mit Nebel umhüllt sind, wechseln sich fast täglich ab. Meter hohe Wellen von Gischt gepeitscht und spiegelglattes Wasser, das zum Baden einlädt – Klischee-Vorstellungen, die es tatsächlich zu erleben gibt auf der zweiwöchigen Fahrt von Jakutsk ins nördliche Eismeer und zurück.
Noch heute kann man die befestigten Landwege zählen, deshalb bleibt die Lena weiterhin die wichtigste Verkehrsader Jakutiens. Der Fluss Lena*, immerhin 4 300 km lang und somit mehr als vier Mal so lang wie der schiffbare Rhein, hat bloss in Ust-Kut (3 500 km von Meer entfernt) die erste und einzige Brücke, und auf der ganzen Länge zählt man kein einziges Stauwehr, kein Kraftwerk und keine Schleuse. Die Ufer sind unbefestigt und der Strom sucht sich jeden Frühling nach der Eisschmelze einen neuen Lauf im zum Teil bis 40 km breiten Bett. Die Lena entspringt auf 1465 m Meereshöhe 5 km westlich des Baikalsees, überfliesst auf ihrer ganzen Länge den Permafrostboden, schlängelt sich zuerst wenige Hundert Kilometer durch die Teilrepublik Irkutsk, dann auf der übrigen Länge durch jene von Jakutien (Sacha genannt). Diese teilautonome Republik** ist sechs Mal so gross wie Frankreich und es leben hier rund eine Million Menschen. Reiseteilnehmer Walter Affolter macht weitere Zahlenwerte anschaulich***: „Für jeden Jakuten stehen drei Quadratkilometer Fläche, 180 ha Wald und ein See zur Verfügung.“
Die ursprüngliche Bevölkerung der Ewenken und Ewenen sind heute mit etwa je 2 % vertreten. Die Jakuten machen rund die Hälfte der Bevölkerung aus, die Russen einen Drittel. Reiseteilnehmer Beat Rösli beschäftigt sich unter anderem mit den Indianern Nordamerikas und sieht viele Parallelen zur Bevölkerung von Jakutien: „In beiden Kulturen spielt der Schamanismus eine wichtige Rolle. Beide Volksgruppen haben asiatische Gesichtsmerkmale. Die Indianer wurden durch die eingewanderten Europäer gewaltsam verdrängt, die Jakuten durch Russen, die erstmals in der Zarenzeit und bis heute in diese gottverlassene Gegend deportiert wurden.“
Unsere Reisebegleiterin Irina Struck, eine gebürtige Ukrainerin, die seit langem in Moskau lebt, stellt fest: „Allein die Natur hat bei der Lena während der letzten 1000 Jahre das Recht auf Veränderung dieser Gegend gehabt. Weder die ansässige Urbevölkerung noch du und ich haben zerstörerisch hier gewütet. Selbst der Staat hat bisher keine wesentlichen Eingriffe in den Dornröschenschlaf dieser Landschaft vorgenommen.“ Die Strassendistanz zu Moskau beträgt 8 500 Kilometer, die Flugdistanz über 5 000.
Nächster Halt: Bisoninsel Ust’-Buotama
Kurz nach Mitternacht legen wir am 6. Reisetag (24. Juli) an der Bisoninsel Ust’-Buotama an; eine ruhige Nacht steht bevor, denn normalerweise fährt die „Michail Svetlov“ auch nachts, etwas, was ich sonst auf andern Flussfahrten nicht schätze. Aber auf dieser Schiffsreise geht es nicht anders. Wie sonst soll das Schiff in 14 Tagen die 3 400 km schaffen? Befürchtungen, während der Nacht etwas zu verpassen, erweisen sich als unbegründet, zu grosszügig ist die Natur hier in Ostsibirien. Alle Stimmungen und Landschaftstypen ziehen sich über mehrere Dutzend Kilometer hinweg, die während Stunden passiert werden. Ausserdem ist es ja die ganze Nacht hell, sodass jedem freigestellt ist, auch in den Nachtstunden draussen das spannende Sibirien zu geniessen.
Der heutige Landgang ist ganz der wieder angesiedelten Bison-Kolonie gewidmet, ein Experiment, diese hier vor 5 000 Jahren ausgerotteten Tiere wieder anzusiedeln. Einige Hundert emigrierten damals nach Kanada. Von dort werden sie nun seit 2005 wieder zurückgebracht. Erste Ergebnisse dieses Projektes sind ermutigend. Nach der Aufzucht auf dieser Insel gelangen die Tiere aufs „Festland“ in die freie Wildbahn. Dieser «jakutische Büffel» ist ein Verwandter des Mammuts. Nach der Führung und ausgedehnten Spaziergängen bei einer Lufttemperatur von 30 Grad sorgt ein Bad in der Lena für eine willkommen Abkühlung.
An Bord werden täglich hochinteressante Vorträge, Filme und Kurse zur Kultur Sachas angeboten. Wer will, kann sich vertieft und fachkundig mit Land und Leuten auseinandersetzen. Mein Entschluss, aus der sehr grossen Vielfalt Russisch für Anfänger und das Erlernen des Maultrommel-Spiels zu besuchen, erweist sich bereits nach dem dritten Kurs als zeitliche und inhaltliche Herausforderung… Hingegen ist der Vortrag über die Schifffahrt für uns alle ein „Muss“, das sich lohnt. Larisa, die Cruisemanagerin des Schiffes, präsentiert fundierte Recherchen. Dabei wird offenkundig, dass es einem kleinen Wunder gleichkommt, „am Ende der Welt“ zwei solche „Luxusschiffe“ geniessen zu dürfen.
Von Korneuburg in zwei Jahren nach Sibirien
In der Tat wirken die beiden Schwesterschiffe auf der Lena exotisch und unplausibel. In Anbetracht der unvorstellbaren Distanz vom Bauort Österreich zum Einsatzgebiet und der „Perestroika“ (Privatisierung der einst kommunistischen Güter und Dienstleistungen) fragt man sich, wie es sein kann, dass diese Schiffe hier landeten und vor allem heute noch fahren… Um diese Frage zu beantworten ist ein Blick ins Jahr 1971 notwendig. Am 24. Parteitag der kommunistischen Partei der Sowjetunion KPdSU beschlossen die Genossen 1971, den Tourismus für die Werktätigen und mithilfe von Schiffsreisen auf allen grossen Strömen der sozialistischen Länder zu ermöglichen.
Die DDR verfügte dazumal bereits über das notwendige Know-How beim Bau von Flussschiffen; die Werften von Wismar und Rostock-Warnemünde bauten zwischen 1953 und 1961 eine Serie von Schiffen für den Liniendienst zwischen den sowjetischen Städten, ab 1970 kamen jene von Boizenburg (Elbe, Grenzstadt zur BRD) dazu. Interessanterweise sind aber die zwei Lena-Schiffe in einem kapitalistischen Land, nämlich in Österreich (Korneuburg an der Donau), gebaut worden. Dem sozialdemokratisch regierten Land, umzingelt von den Ostblockstaaten DRR, Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien, gelang eine geschickte Politik des Ausgleichs, die der Wirtschaft Österreichs viele Aufträge aus dem Osten bescherten.
Kanzlergattin Christine Vranitzky taufte das Schiff Mikhail Svetlov, bevor sie dieses auf eine abenteuerliche Reise von der Donau nach Sibirien schickte. Zuerst fuhr es donauabwärts ins und übers Schwarze Meer, dann bei Astrachan über die Wolga nach Moskau. Hier überwinterte das Schiff, weil jahreszeitlich bedingt alle Flüsse zugefroren waren. Nach der Eisschmelze ging es dann über den Wolga-Ostsee-Kanal auf die Newa in die Ladogasee. Über den Fluss Swir erreichte die «Michail Svetlov» die Onegasee, um schliesslich über den Fluss Wyg das Weisse Meer zu erreichen. Tausende von Kilometern ging es nun über die Barentssee in die Karasee. Hier war nun das (vorläufige) Ziel erreicht: Die «Michail Svetlov» sollte auf dem Ob und dem Irtysch zum Einsatz kommen.
Die Einweihung erfolgte am 9. April 1986, zwei Jahre nach der Auslieferung in Österreich nach der längsten Überführungsfahrt, die je ein Schiff absolvierte. Aber es sollte noch besser kommen: 1988 wurde dieses Schiff schon weiter gegen Osten übergeben, und zwar an die Lena-Flussreederei. Die Reise führte nun über das das Eismeer zum Laptewmeer nach Tiksi und Lena-aufwärts zum endgültigen Heimathafen Jakutsk. Das Schwesterschiff Demjan Bedny, ein Jahr nach der «Svetlov» abgeliefert, fuhr dann lt. Internetrecherchen von Korneuburg direkt auf die Lena und war somit vor der älteren Schwester am heutigen Ziel.
Larisa, unsere Cruisemanagerin an Bord, mag sich erinnern, dass in den ersten zwei Jahren ausschliesslich deutsche Touristen auf die beiden Hotelschiffe kamen, das Olympia-Reisebüro in Bonn (seit 2011 geschlossen) war damals Alleinanbieter. 1990 kamen die ersten Amerikaner auf die Hotelschiffe – eine Sensation. Denn das Ende des Kalten Krieges wird, historisch betrachtet, erst 1991 deklariert. Michail Gorbatschow leitete genau zur gleichen Zeit (ab 1986) einen Prozess zum Umbau des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion ein: Perestroika (Umstrukturierung vom volkseigenen zu privatem Kapital) und Glasnost (Offenheit) führten in der Folge zu fundamentalen Umwälzungen in der UdSSR und schliesslich zum Zerfall der Sowjetunion, was weltweite Auswirkungen hatte.
Im Zuge der Privatisierungen übernahm 1998 der Diamantenkonzern Alrosa die beiden «Luxusliner». Es sollten noch 10 Jahre vergehen, bis 2008 auch russische Gäste an Bord zu sehen sind. 2013 konzentriert sich der weltgrösste Diamantenproduzent aufs «Kerngeschäft» und verkauft die beiden Schiffe an die Lena-Reederei, an der die Republik Jakutien zu 51 % beteiligt ist. Alles in allem betrachtet, gleicht es fast einem Wunder, dass 30 Jahre nach der Perstrojka noch drei grosse Schiffe auf der Lena fahren.
Die «Michail Svetlov» legt an der Insel Ust’-Buotama an; festgemacht wird das Schiff an Bäumen.
Die Lena fliesst auch an dieser Stelle über Permafrostboden; trotzdem lädt sie mit 21 °C Wassertemperatur zum Baden ein, weil die 30 °C warme Luft das Wasser an der Oberfläche aufwärmt.
Wenige Fahrstunden unterhalb von Jakutsk befindet sich eine ankernde Tankstelle. Auch wir docken an einen mit Treibstoff gefüllten Tanker an. Unsere Diesel-Vorräte reichen für 5 000 km Fahrt.
Grosszügige Seitengalerien geben den Blick frei auf den Sonnenaufgang über der Lena.
Schiffskreuzungen sind auf unserer 1 700 km langen Fahrt nordwärts eine Seltenheit. Hier fährt das dritte Lenaflott-Schiff, die «Mechanik Kubilin» von Tiksi kommend nach Jakutsk.
Der Eisgang vom letzten Mai riss Birken mit; am Ufer wechselt die Szenerie immer wieder.
Gewaltige Flusserosionen legen Gesteinsschichten frei, die viele Bodenschätze zu Tage bringen.
Flusstage bieten auch mal Zeit und Musse für eine Runde Vodka.
Text und Bilder H. Amstad
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Hinweise
*) Der Fluss hiess ursprünglich «Uly-Yene» oder «Elju-Ene» (Grosser Fluss), hergeleitet von der Urbevölkerung Sachas, den Ewenken und Ewenen. Diese Völker wurden vor rund 1000 Jahren von den vom Baikalgebiet her eingewanderten Jakuten gegen Norden verdrängt. Die Jakuten adaptierten den Flussnamen zu «Ölüöne». Zur Zeit der Zaren (vor 500 Jahren) und der Diktatoren der Sowjetunion (vor rund 100 Jahren) kamen die «Weissen» aus Russland nach Sacha – die einen als Gepeinigte (Vertriebene und Gefangene), die andern als Peiniger. Die Russen gaben dann dem Fluss den Namen «Lena».
**) 1922 wurde Jakutien autonome Republik der UdSSR. 1991 wurde die Souveränität mit dem neuen Namen Republik Sacha verkündet. Laut dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin bekam Sacha somit das „volle moralische und juristische Recht, seine Ressourcen zu nutzen und seinen Reichtum zu verteilen“. Der heutige Präsident Wladimir Putin sieht dies mit dem Begriff «Teilautonomie» anders.
***) Die Lena hat 23 000 grössere und kleinere Zuflüsse, bildet links und rechts des Laufes rund eine Million Seen und entwässert rund 180 Millionen ha Wald. Die klimatischen Verhältnisse sind weltweit die extremsten: Der Temperaturunterschied zwischen Sommer und Winter beträgt hier 100° C.
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