Rückblick auf die Apérofahrten MS Schwan: «Ich bin auch eine Tanzbühne»
Corona bescherte auch uns vom MS Schwan in diesem Jahr kurzfristige Planungen und häufige Umdisponierungen. Glückliche Umstände führten im Jahr 2021 aber zu keiner Reduktion der «Apérofahrten MS Schwan mit Zuger Kulturpersönlichkeiten», obwohl Termine und die eingeladen Persönlichkeiten nicht den ursprünglichen Ankündigungen entsprachen.
Seraina Sidler-Tall
Als MS Schwan zur ersten diesjährigen Apérofahrt ausfährt, geniessen alle seit Langem wieder einen niederschlagsfreien Abend. Mehr noch: die Sonne begleitet uns während der ganzen Fahrt und geht an diesem 10. Juni erst spät nach unserer Ankunft in Zug unter. Wir brauchen sie heute: sie ist ein wichtiges Requisit und bildet einen integralen Teil der zwei Performances unseres heutigen Gastes, der Tänzerin Seraina Sidler-Tall. Schiffsführer Simon Küttel fährt der Zuger Altstadt vorbei und legt in Oberwil an. Seraina erwähnt zuerst ein paar wichtige Stationen aus ihrem künstlerischen Leben1. Ihr Weg von der Tanz-Theater-Schule Zürich über das Centre de Danse International Rosella Hightower in Cannes führt sie zu Jennifer Muller nach New York. Dort studiert sie deren einzigartige Tanzmethodik nach der Franklin-Methode2. Sidler: «So stellte ich die Weichen für meine spätere Arbeit als Tänzerin, Pädagogin und Therapeutin.» Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitet sie für diverse freischaffende Companies in Zürich, Bern sowie Kopenhagen und fängt parallel dazu an, ihre eigenen Tanzstücke zu produzieren.
Die Gäste steigen nun aus, die «Schwan» fährt eine Schiffslänge rückwärts an den südlichen Anlegepfahl und Seraina besteigt dann das Dach des Schiffes. Die legendäre Abendsonne Oberwils und dem glitzernden Zugersee bilden eine monumentale Kulisse, Seraina tanzt nun zu Anges Obel‘s «Riverside»3, im starken Gegenlicht wirkt sie so wie eine sich bewegende Scherenschnitt-Figur. Obwohl auf Distanz spürt und erkennt man in dieser ersten Darbietung fast jede ihrer Muskelfasern, von der Zehe bis zur Fingerspitze. Da passt ein Zitat eines Kulturkritikers dazu, indem er über sie schrieb: «Ihr Tanzausdruck zeichnet sich durch eine poetische Bewegungssprache und durch eine kraftvolle, ja athletische sowie ausdrucksstarke Präsenz einer äusseren wie inneren Bewegung aus.»
Anschliessend queren wir den See und fahren in die Buonaser Bucht. In roter Seidenrobe gekleidet bewegt sie sich mirakulös zur offenen Schiffstüre backbords. Lautlos übergibt sie ihren Körper dem Element Wasser. Später erklärt sie uns: «Ich habe mich von klassischen Bühnen vermehrt verabschiedet. Ich brauche den Kontakt zu den Leuten. Ich tanze heute auf Friedhöfen, in Parks, in Fabrikhallen, in Schlössern und … auf Schiffen.» Dieses Mal wirkt die Sonne als direkten Scheinwerfer auf ihre Haut und ihr rotes Kleid, wenn beides im Wechsel und oft überraschend aus dem Wasser taucht, einmal ganz nah an der Schiffsschale, das andere Mal in weiterer Distanz mit dem Schloss Buonas im Hintergrund. Seraina muss diesen Teil etwas abkürzen, da sie sich bei einer Wende massiv verschluckt. «Ich ha eifach zviel s Muul offe», lautet ihr Pardon, als sie wieder an Bord ist und «pflotschnass» auf dem Künstlerstuhl weiter aus ihrem Leben erzählt.4 Unter den Gästen lauschten auch ihre Eltern Jon Carl und Pierina Tall sowie ihre Tochter mit Spannung ihren Ausführungen zu.5
Christoph Balmer
Auch der zweite Schwan-Apéro-Abend in diesem Jahr stand am 2. September meteorologisch unter prächtigen Voraussetzungen, nachdem wir einen der kältesten und nassesten Sommer seit langem hinter uns gelassen haben. Schiffsführerin Zanny Zaum stellt ihr Schiff nach zwei pirouettenartigen Schlaufen nach Wunsch der heutigen Kulturpersönlichkeit Christoph Balmer vor der Zuger Altstadt auf. Kurz sein Leben und Werdegang streifend setzt er am heutigen Abend einige Akzente aus seinem reichhaltigen Schaffen im Dienst der Zuger Kultur. Bereits nach zwei Sätzen wird uns Gästen klar, dass seine Herausforderung des Abends das Auswählen von unzähligen interessanten Geschichten sein wird und meine, die Zeit im Griff zu behalten. Als Christoph 25 ist stirbt 1978 sein Vater Hans Rudolf, ein renommierter Buchhändler in Zug und erfolgreicher Verlagsauslieferer, der unter anderem sieben deutsche Verlage in der Schweiz vertrat. Mit der Handelsmatura und Buchhändlerlehre sowie drei Auslandjahre «in der Tasche» entschied sich dann Christoph, das Erbe des Vaters anzutreten. Er entwickelte in der Folge seine Tätigkeiten bis zur zweitgrössten Verlagsauslieferung der Schweiz und zur Integration seiner Buchhandlungen in Zug und Steinhausen in die Lüthy Balmer Stocker-Gruppe.
Christoph Balmer packt einen altehrwürdigen Kassettenrecorder aus und lässt ein Tondokument laufen. Das «Kasettli» erinnert an die Eröffnung des Casinos vom 16. Oktober 1981, wo Christoph an der Eröffnung im Stadtorchester Zug als Cellist mitspielte (und der Autor dieser Zeilen als Tenor im Festchor mitwirkte). «Unter anderem kam das ‘Hecht’-Lied des Komponisten Hans Flury zur Aufführung, dessen Text mein Vater anlässlich für das Festspiel zur Zentenarfeier des Kantons Zug 1952 verfasste», fügt Balmer hinzu. Das Schiff tuckert nun Richtung Choller, wo von weitem die bereits etwas im Abenddunst liegende Chollerhalle zu sehen ist. An der Realisierung dieses für Zug wichtigen Alternativ-Kulturtempels, der aus dem Projekt Spinni-Halle entstand, trägt Christoph Balmer wiederum einen wesentlichen Anteil.
Kulturräume waren bis zur Jahrtausendwende für viele Kultursparten im Kanton Zug eine rare Sache. Abhilfe schuf anfänglich die von Christoph Balmer mitgeschaffene und präsidierte IG Kultur Zug mit der Eröffnung der Spinni-Halle Lorze in Baar 2001. Doch der Hausfrieden zwischen dem Spinnerei Lorze-Eigentümer Adrian Gasser und der IG hing bald schief. Zum einen lag Gasser mit der Zuger Regierung wegen seiner unrechtsmässig geführten Personalfürsorgestiftung im Streit, zum andern wurde die in seinem Eigentum befindliche Spinni-Halle massgeblich durch den Kanton finanziert. Nachdem er mit der Veröffentlichung des Textteils „Open End – Baar und seine Spinnerei“ im Buch «Zug erkunden», erschienen im Balmer Verlag, nicht einverstanden war, kündigte Gasser den Mietvertrag der Kulturhalle. Mit einer superprovisorischen Verfügung wurde das Buch aus dem Verkauf gezogen. Inzwischen sollte dieses Buch zu einem der „Schönsten Schweizer Bücher“ im Museum für Gestaltung in Zürich erkoren werden. «Da taucht Gasser auf, nimmt das Buch vor versammeltem Gremium weg und verschwindet wieder, bevor die perplexe Jury und die Gäste reagieren konnten.»7 Christoph Balmer hätte noch viele Müsterchen und Anekdoten auf Lager und könnte locker einen Abend lang unterhalten. Mit seinen letzten Worten entschwindet die Sonne hinter dem Lindenberg bei Cham und wir kehren zurück nach Zug.
Urs Reichlin
Urs Reichlin zeigt sich in seinen Begrüssungsworten auf unserer dritten Fahrt mit Zuger «Kulturpersönlichkeiten» vom 30. September überrascht über diesen «Titel», was seine Person betrifft. Für mich aber ist es klar: auch wer Kultur ermöglicht, vermittelt oder unterstützt, ist eine Kulturpersönlichkeit. Unser Schiff hält wenige Minuten nach dem Start vor der Katastrophenbucht in Zug, dort wo am 5. Juli 1887 die vordere Häuserzeile der Vorstadt in den Fluten versank, 11 Menschen in den Tod riss und auch die Schiffstation Zug Bahnhof stark beschädigte. Heute aber haben unsere Gäste keine Katastrophenstimmung, ganz im Gegenteil.
Engagiert erzählt Reichlin, dass er 1964 den ersten Atemzug im Kantonsspital in Zug erlebte. Später zog seine Familie nach Küssnacht. Dort lernte ich sein Wirken bereits vor 30 Jahren kennen, ohne zu wissen, dass dieser Tausendsassa in Sachen Kunsthandel einst mal mein Gast an Bord der «Schwan» sein wird. Eine Ausstellung von Hubert Nanzer zog mich damals in den Bann: ein gigantisches Bild vom Raddampfer Uri oder phänomenale Landschaftsbilder vom Gebirgszug Vierwaldstättersee Süd waren schon damals Ausdruck der Spezialitäten der Galerie Reichlin. Damit wäre der Bogen geschlagen zu heute: Reichlins ausgezeichneten Stärken sind Kontakte zu rund 20 internationalen Künstlern, wie jener des Plainairmalers Christopher Lehmpfuhl aus Berlin. Hier an diesem ersten Haltepunkt der heutigen Ausfahrt malte Lehmpfuhl am 28. Mai 2021 sein erstes von acht Werken – an Bord vom MS Schwan. Ganz unter dem Motto von MS Schwan: «Ich bin auch ein Malatelier».
Wir nehmen nun Kurs in Richtung Insel Eiola, einer Vogel- und Naturschutzinsel zwischen Ober- und Walchwil gelegen. Die Insel diente den jungen Gebrüdern Reichlin als Wendeboje für die familien-internen Segelregatten mit den Optimisten. An Segelregatten nimmt Urs Reichlin nicht mehr teil, Optimist hingegen ist er geblieben. Das passt gut zu seiner Lebensphilosophie, bei der er als oberstes Ziel in seinem Leben «Leute glücklich zu machen» formuliert. Seine Naturverbundenheit zeigt sich nicht nur in seinem künstlerischen Fokus, sondern auch in seinen Freizeittätigkeiten als Gleitschirmflieger, Snow- und Kickboarder, wo er nebst dem kommerziellen auch im sportlichen Bereich das Risiko liebt.
Gegen 18.50 Uhr sinkt die Sonne hinter dem Chiemen und wir nähern uns dem Baumgärtli, das bis zum Jahr 2000 eine Schiffstation für die SGZ war. «Wir schwimmen zum Stein», ist ein geflügeltes Wort in der Familie Reichlin. Gemeint ist damit der sommerliche Schwumm von seinem Haus «Sunnefels» ganz in der Nähe des Baumgärtli zu einem 400 m entfernt gelegenen Findling, den der Reussgletscher vom Gotthardmassiv hier am Zugerseeufer niederlegte und nun majestätisch aus dem Wasser ragt. Das Schiff hält vor seinem Haus, seine Familie mit Elisabeth Stalder, Sohn Lionel und Tochter Irina begrüssen uns und winken hinüber. Urs Reichlin spricht vom Glück des Lebens, wenn man wie er 2019 eine solche Traumliegenschaft vom Vater geerbt bekommt.
Ausdrucksstarke Tanzperformance an Bord der «Schwan»: Seraine Sidler-Tall
Eine Tanzperformance auf dem Dach der Apéroschiffes in Oberwil…
… und eine Choreografie im Wasser rund um das Schiff
Christoph Balmer mit einem Tondokument aus dem Jahr 1981 anlässlich der Eröffnung des Kulturhauses Casino in Zug
Mit den letzten Worten sinkt die Sonne unter den Horizont; die sprichwörtlichen Sonnenuntergänge machen am heutigen Abend alle Ehre.
Ein genüsslicher Abend auch auf dem dritten Apéroschiff der Saison 2021
Galerist Urs Reichlin, an diesem Abend von einem Kickboard-Unfall leicht handicapiert, zeigt eine der 20 Monotypien, die Christopher Lehmpfuhl zu Gunsten der Finanzierung der kommenden Renovation von MS Schwan geschaffen hat.
Bilder im Textteil: Publikumsnähe garantiert: die Künstlerin und die Künstler im regen Austausch mit den Gästen der Apérofahrt MS Schwan.
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Hinweise
1) Seraina Sidler (1974): «Mein Vater kam von Scuol nach Zug, um seinen Sport, den militärischen Fünfkampf, auszuüben. Er trainierte in Bremgarten und war viel in Magglingen. Er wurde als Athlet und später auch als Trainer mit der Schweiz Europa- und Weltmeister. Er hat aber auch Triathlons gemacht und war Langläufer.»
2) In den 1980-er-Jahren hat der Schweizer Sportwissenschaftler Eric Franklin die Franklin-Methode gegründet. Der Schwerpunkt liegt auf mentalem Training. Mithilfe von «Gedankenbildern» steigert sich das Körper- und Bewegungsempfinden und dadurch sportmotorische Fähigkeiten wie Kraft, Beweglichkeit und Koordination.
3) Seraina Sidler: «Normalerweise arbeite ich mit Livemusik, aber nur wenn ich Budget habe, um sie anständig zahlen zu können. Ich liebe es mit ‘meinen’ Livemusikern zu arbeiten.»
4) Sie plädiert dafür, die kleinen Momente gross zu machen und die Sinnlichkeit und Wahrnehmung zu leben: «Es gilt, die kleinen Sensationen im Alltag einzubauen, zu beachten und zu feiern. Achtsamkeit ist mein Thema; sogar meine Praxis in Cham nenne ich ACHTEN, Praxis für Polarity und Achtsamkeit. Mein Tun und Sein als Tänzerin und Mensch nährt meine Arbeit als Therapeutin und Pädagogin und umgekehrt.» Sie schaut sich an: «Ich habe grosses Glück, dass ich diesen Körper habe», und ist dankbar, dass sie mit 47 Jahren noch voll im Business steht, «ohne künstliche Gelenke und Gebresten wie viele meiner Kolleginnen. Beim Tanzen nimmt mit dem Alter das athletische ab, dafür fliessen Lebensgeschichten und Körpererfahrung hinein.»
5) Mutter Pierina Tall mag sich über bange bange Minuten auf dem Zugersee erinnern: «Als Seraina 1976 zweijährig war, passierte ein Bootsunglück. Ein mit unseren Kindern und zwei Erwachsenen belegte Motorboot sank aus mir unbekannten Gründen zwischen Oberwil und Walchwil. Ich klammerte in einer Hand Seraina und in der andern den Sohn, die beide nicht schwimmen konnten. Nach bangen 20 Minuten im 16-grädigen Wasser wurden wir vom vorbeifahrenden ‘Schwan’ gerettet.»
6) An seinen ehrenamtlichen Engagements zeigen sich Christoph Balmers Aktivitäts-Schwerpunkte besonders gut: Mitglied der Musikschulkommission der Stadt Zug (1981 – 2003); Vorstandsmitglied der Vereinigung Zuger Altstadt (1990 – 1998), und in der damaligen Struktur Mitorganisator der Old Time Jazz Night Zug und des Märlisunntig; Präsident Stadtorchester Zug (1995 – 2020) mit der Gesamtverantwortung für semiprofessionelles Sinfonieorchester mit 60 Mitgliedern; Vorstands- und Jurymitglied Zuger Übersetzerstipendium (seit 1996); Präsident der IG Kultur Zug (seit Gründung 1995 – 2020); Dachorganisation der kulturellen Vereine im Kanton Zug, Herausgeberin des Kulturkalenders des Kanton Zug, Organisatorin der Kulturlandsgemeinden 2007 und 2008, des netzwerk_kultur_zug, der geplanten Zuger Kulturtage; Betreiberin der Spinnihalle, Zentrum für Kultur + Aktion in Baar (2001 – 2005) und des Nachfolgeobjekts Chollerhalle in Zug (seit 2005 – 2011) mit Gesamtverantwortung (Vorstand, Personal, Finanzen, Fundraising, Lobbying) für den Zweispartenbetrieb mit einem Budgetrahmen von CHF 1.2 Mio.; Mitglied des Rotary Clubs Zug (seit 1980).
7) Eine Verständigung mit Gasser für die Spinni-Halle gelang dann nicht mehr. Eine Nachfolgelösung brachte die IG Kultur Zug durch den Bau der Chollerhalle, die 2005 eröffnet wurde.
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Impressum
Text und Bilder H. Amstad
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Vielen Dank für die Einladung, das Bad und den Schluck Wasser aus dem Zugersee. Ich habe die Fahrt sehr genossen. Dieses Format ist eine schöne Art der Kulturvermittlung und der Begegnung und Austausch. Bravo!