Schiffs­ver­kehr auf dem Vier­wald­stätter­see im Win­ter 2020: Vom Höhe­punkt zum Corona-Absturz

Erst­mals in der Geschichte der Schiff­fahrts­ge­sell­schaft des Vier­wald­stätter­sees steht der Schiffs­ver­kehr seit dem 28. März 2020 für meh­rere Tage, ja Wochen voll­stän­dig still. Die Mass­nah­men des Bun­des­ra­tes zur Ver­zö­ge­rung der Corona-Pan­de­mie haben das öffent­li­che Leben und somit auch die Schiff­fahrt in der Schweiz zum Erlie­gen gebracht.

Bevor die dras­ti­schen Mass­nah­men wie Auf­ruf zu Home­of­fice, Ver­bot von Ansamm­lun­gen über fünf Per­so­nen, Vor­schrift «social distance» auf 2 Meter und der Apell, den öffent­li­chen Ver­kehr zu mei­den in Kraft tra­ten, reagierte die SGV schon frü­her wegen Aus­blei­ben der asia­ti­schen Tou­ris­ten. Die noch vor Wochen­frist erfreu­lich besuch­ten «Panorama»-Rundfahrten wur­den ab dem 9. März ein­ge­stellt. Laut Pres­se­be­rich­ten hat die SGV-Toch­ter Tavo­lago schon damals für 10 Ange­stellte Kurz­ar­beit ein­ge­führt, dies wegen gecan­cel­ten Events auf dem See; die Ein­bus­sen lagen bereits anfangs März bei 1 Mil­lion Fran­ken. Die SGV schrieb in ihrem Com­mu­ni­qué: «Der öffent­li­che Ver­kehr, zu wel­chem auch die Ange­bote der Schiff­fahrts­ge­sell­schaft des Vier­wald­stätter­sees (SGV) AG gehö­ren, sind vom Ver­bot von Gross­an­läs­sen nicht betrof­fen.» Somit fah­ren die Schiffe vor­läu­fig weiterhin.

Doch es soll noch «dicker» wer­den. Am omi­nö­sen Frei­tag, 13. (!) März 2020 wird es auch für die Schweiz wie zuvor in Ita­lien und China «ernst»: Schu­len und alle tou­ris­ti­schen Ange­bote müs­sen schlies­sen, am Mon­tag folgt die Ankün­di­gung, die Geschäfte und meis­ten Läden dicht zu machen. Eine Woche spä­ter redu­ziert der öffent­li­che Ver­kehr das Ange­bot, so auch die SGV, die ab dem 20. März noch vier Kurs­paare anbie­tet (Aus­schnitt, Retour­fahr­ten 902 bis 908 analog):

Ein­ma­lig in der Geschichte der Vierwaldstättersee-Schifffahrt

Die Fre­quen­zen bre­chen regel­recht ein. Die Luzer­ner Zei­tung berich­tet, dass das noch ein­zig übrig geblie­bene Kurs­schiff (zuerst MS Win­kel­ried, spä­ter MS Flüelen) zum Schluss noch sie­ben Per­so­nen trans­por­tiert habe. Vor einem Monat waren es noch 3000 im Tag. Ab dem 28. März fährt auf Druck des Kan­tons Luzern gar kein Schiff mehr. Die SGV mel­det 400 Per­so­nen zur Kurz­ar­beit an.

Selbst wäh­rend dem 1. und 2. Welt­krieg wurde der Schiffs­be­trieb nie ein­ge­stellt; das Ange­bot war aller­dings redu­ziert. Der Kriegs­fahr­plan von 1939/40 zeigt auf, dass es an Werk­ta­gen immer noch sechs Schiffs­kurse im Som­mer gab, die bis Flüelen führ­ten*. Schiffs­ken­ner Mario Gavazzi kennt den Grund: «Wäh­rend des 2. Welt­krie­ges hatte die DGV im Rah­men der Réduits-Ver­tei­di­gung Fahr­auf­ga­ben für die Armee. Selbst für den Rüt­l­i­rap­port von Gene­ral Gui­san gab es für das Flagg­schiff eine Son­der­ra­tion Kohle, damit der ener­gie­in­ten­sivste Rad­damp­fer seine Auf­gabe wahr­neh­men konnte.»

Auch bei extre­men Föhn- und ande­ren Stür­men (z.B. bei der Föhn­lage im Herbst 1982 oder beim Sturm Lothar am 26. Dezem­ber 1999) fuh­ren die Kurs­schiffe bis Vitz­nau oder Becken­ried, bzw. Treib, die «Uri» bis Bauen. In heu­ri­gen Win­ter gab es im Januar schon mal Tage, wo wegen orkan­ar­ti­gen Stür­men der eine oder andere Schiffs­kurs aus­fiel. Nebst den aus­ser­or­dent­lich vie­len Son­nen­ta­gen gab es sel­ten so viele starke Stürme wie im Win­ter 2019/20.

Gavazzi weiss noch von einem ande­ren Zusam­men­hang zu berich­ten, der die Schiff­fahrt zum Erlie­gen brachte: «Am Gene­ral­streik vom 17. und 18. Juli 1919 ver­kehr­ten, soweit ist dies doku­men­tiert, keine Schiffe. Die Besat­zun­gen waren aber an Bord der bestreik­ten Schiffe, so zum Bei­spiel auf DS Schil­ler in Flüelen. Ob das auch beim Lan­des­ge­ne­ral­streik von 1918 der Fall war, habe ich nicht doku­men­tiert. Teil­weise wurde der öffent­li­che Ver­kehr auf den Schie­nen lahm­ge­legt bzw. im Falle der Luzer­ner Stras­sen­bahn von der Unter­neh­mung her ein­ge­stellt, um Kon­fron­ta­tio­nen zu vermeiden.»

Dabei begann der Win­ter 2019/2020 vielsprechend

Der Vier­wald­stätter­see hat den bes­ten Win­ter­fahr­plan in ganz Europa auf einem Bin­nen­see. Beson­ders in die­sen schnee­ar­men und oft son­ni­gen Win­ter­mo­na­ten mit über­durch­schnitt­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren zahlte sich das aus­ge­zeich­nete Ange­bot aus. Im Januar wur­den 91 416 Per­so­nen beför­dert, im Februar 81 680. Dass heute im Win­ter drei Schiffe täg­lich nach Flüelen fah­ren hätte ich mir vor Jahr­zehn­ten nicht träu­men las­sen. Zum Bei­spiel im Win­ter 1985 – es waren harte Zei­ten für die Schiff­fahrt unter dem dama­li­gen Direk­tor und Sanie­rer Ruedi Inei­chen – bewäl­tig­ten MS Mythen, Reuss und Bri­sen die Haupt­last des Win­ter­fahr­plans. Ich habe Bil­der vor mir, als es im bit­ter­kal­ten Februar 1985 mög­lich war, im Heck­sa­lon der «Bri­sen» auf dem Mit­tags­kurs 15 (Abfahrt 12.00 Uhr) die Tou­ren­ski für eine Ski­tour für den Vitz­nau­er­stock vor­zu­be­rei­ten, weil die Hei­zung den hin­ein­ge­tra­ge­nen Schnee nicht auf­tauen konnte.***

35 Jahre spä­ter geniesse ich in die­sem Win­ter drei exklu­sive Schiff­fahrts­tage auf dem Vier­wald­stätter­see. Am Sams­tag, 22. Februar 2020 kann ich alle drei «moder­nen» Ein­hei­ten der SGV-Flotte bestei­gen: die «Saphir» macht die Pan­orama-Rund­fahr­ten 205 bis 209, die «Cir­rus» den Bür­gen­stock-Shut­tle 801 bis 834 und die «Dia­mant» die Kurse 1_4, 7_10 bis 29_38. Bei herr­lichs­tem Wet­ter ist die Stim­mung über­all rela­xed, nichts ahnend, dass in einem Monat alles ganz anders wird.

An einem gewöhn­li­chen Frei­tag, den 28. Februar 2020, ste­hen 10 Schiffe im Ein­satz! Unter ande­rem auch MS Mythen auf Instruk­ti­ons­fahrt; also jenes Schiff, das im 2020 die letzte Sai­son vor sich hat. Das 1931 erbaute Schiff sorgte damals in Fach­krei­sen für Furore: es war das erste mit elek­trisch geschweiss­ter Schale und Alu­mi­ni­um­auf­bau­ten ver­se­hene Pas­sa­gier­schiff der Welt***. Mario Gavazzi schreibt in einem Zei­tungs­kom­men­tar: «Archi­tek­to­nisch passt die­ses Schiff genauso wie das Flagg­schiff Stadt Luzern in eine Zeit­epo­che, die geprägt war von Ein­flüs­sen und Begrif­fen von Le Cor­bu­sier.“ Doch zurück zu mei­nen „Genuss­fahr­ten“ vom zweit­letz­ten Febru­ar­tag im Schalt­jahr 2020. MS Europa ist im Kurs 7_10 bis 29_38 ein­ge­setzt, MS Gott­hard für den früh­mor­gend­li­chen Pend­ler­kurs 1_4, dann 11_20 nach Flüelen und 1027_28 sowie MS Schwyz auf den Kurs­paa­ren 13_14 und 21_30 nach Flüelen und zurück, eben­falls bei bes­ten Witterungsverhältnissen.

Am Mitt­woch, 11. März 2020, bestrei­ten gar alle vier alten Gross­mo­tor­schiffe den Win­ter­fahr­plan – etwas Ein­ma­li­ges. Höhe­punkt dabei bil­det das Über­nach­tungs­schiff Gott­hard, das nahezu wäh­rend 12 Stun­den zwi­schen 06.49 ab Brun­nen bis 18.23 im Ein­satz steht. Man muss 65 Jahre zurück­blen­den, als letzt­mals (aus­ser ein­mal beim Rüt­li­schies­sen) in Brun­nen ein so gros­ses Schiff im Win­ter über­nach­tete. Bis 1956 kam es schon mal vor, dass DS Unter­wal­den im Wech­sel mit DS Uri auch im Win­ter in Brun­nen über Nacht sta­tio­niert war und ent­spre­chende Morgen‑, resp. Abend­kurse anbot.

Gründe für den Ein­satz der vier «Gross­mo­tor­schiffe» sind grös­sere Revi­si­ons­ar­bei­ten an den Schif­fen Wald­stät­ter (neue Küche), Weg­gis und Tit­lis sowie lie­fer­fir­men­be­dingte Revi­si­ons­tage für die «Dia­mant» und «Cir­rus». Wei­ter ste­hen MS Brun­nen und MS Rütli als Aus­bil­dungs­schiffe im Ein­satz und MS Bür­gen­stock war­tet auf ein Ersatz­teil, des­sen Lie­fe­rung wegen dem Corona-Virus blo­ckiert ist. Hier die Fahr­ord­nung die­ses spe­zi­el­len Tages (dritte Kolonne):

Die Ent­wick­lung des Win­ter­ver­kehrs auf dem Vier­wald­stätter­see ist ein beson­de­rer (B)Logbuch-Eintrag wert. Dazu freue ich mich auf umfang­rei­che Recher­chen, die noch zu täti­gen sind. Erste Nach­for­schun­gen zei­gen, dass hier das «Feld» noch offen ist. Eine Schlüs­sel­rolle kom­men in der Win­ter­ent­wick­lung den drei Pan­ora­ma­schif­fen zu, die für die ver­meint­li­che Expo 91 beschafft wor­den sind. Der dama­lige SGV-Direk­tor Hans Mei­ner revo­lu­tio­nierte mit die­sen Schif­fen den Win­ter­fahr­plan und lei­tete eine Ent­wick­lung ein, die heute schliess­lich zu drei täg­li­chen Schiffs­kur­sen bis Flüelen führ­ten. Min­des­tens war das bis zum 19. März 2020 der Fall…

Die «Schwyz» ist in die­sem Win­ter ab und zu im Kurs­ein­satz nach Flüelen gestan­den, hier im Bild in Ger­sau auf dem Kurs 30 am 28. Februar 2020.

Die «Gott­hard» führt am glei­chen Tag den Kurs 28 durch, hier im Bild in Vitznau.

10 Schiffe sind am 28. Februar im Ein­satz der SGV, so auch das bald 90-jäh­rige Schiff Mythen auf Schu­lungs­fahrt; im Hin­ter­grund das Bür­gen­stock-Res­sort, die Nid­wald­ner- und Engel­ber­ger Alpen.

In «nor­ma­len» Zei­ten fährt die «Saphir» auch im Win­ter bis zu vier Rund­fah­ren ab Luzern Schweizerhofquai.

Am 22. Februar, an einem der vie­len Prachtstage im Win­ter 2019/20 erfreuen sich über 1000 Fahr­gäste einer Schiff­fahrt auf dem Vier­wald­stät­te­see; im Bild MS Cir­rus und MS Dia­mant vor der Stadt­lu­zer­ner Kulisse.

Die moder­nen Schiffe der SGV bie­ten spe­zi­ell im Win­ter ein attrak­ti­ves Schiffs­er­leb­nis, hier MS Saphir mit Blick auf die Luzer­ner Alt­stadt und DS Wil­helm Tell.

Letzte Fahrt von MS Flüelen am 27. März 2020 vor der voll­stän­di­gen Ein­stel­lung der Schiff­fahrt auf dem Vier­wald­stätter­see: v.l.n.r. Andreas Von­lau­fen (Schiffs­füh­rer), Jonas Frunz (Bei­mann), Lal­line da Silva-Goes (Kas­sie­rin).

Bil­der Text­teil: Eine herr­li­che und sel­tene Tri­lo­gie, foto­gra­fiert von Mar­kus Zür­cher; alle drei Flüel­e­ner-Kurse wer­den an einem Win­ter­tag durch die drei gröss­ten Alt-Motor­schiffe durch­ge­führt: MS Gott­hard auf K407_18, MS Win­kel­ried auf K11_20 und MS Schwyz auf K21_30; attrak­ti­ver kann man das Ange­bot nicht mehr sein.

Bild 7 B. Gisi, Bil­der Text­teil M. Zür­cher, Text und übrige Bil­der H. Amstad

Durch Klick aufs Bild erscheint die­ses im Grossformat.

Am Schluss des Blogs ist Ihr Kom­men­tar willkommen.

Hin­weise

*) Der Kriegs­fahr­plan war in Kraft zwi­schen dem 2. Sep­tem­ber bis 7. Okto­ber 1939 und vom 11. Mai bis 8. Juni 1940, Quelle: Amt­li­ches Kurs­buch, Reprint Minirex-Ver­lag 1977.

**) In Vitz­nau ging es per Luft­seil­bahn auf die Wis­si­flueh und dann per Tou­ren­ski auf den Vitz­nau­er­stock. Die Abfahrt führte hin­un­ter zum Rot­schuo; bei genü­gend Schnee und noch ohne Son­nen­ein­strah­lung mit drei wun­der­ba­ren Hän­gen, die man vom Schiff aus zwi­schen Vitz­nau und Becken­ried gut ent­de­cken kann.

***) Die Schiffs-Agen­tur fei­ert den letz­ten Kurs­tag der «Mythen» mit einer Abschieds-Extrafahrt am Sonn­tag, 18. Okto­ber 2020, siehe Link.

Bewer­tung abgeben 🙂

[ratings]

Archi­vie­rung

Zum Archi­vie­ren oder Aus­dru­cken die­ses Medi­en­be­rich­tes akti­vie­ren Sie das Icon. Bevor Sie das PDF sichern, dru­cken oder able­gen emp­feh­len wir, zur opti­ma­len Dar­stel­lung, die Aus­rich­tung Quer­for­mat in der Grösse 80 %. Geeig­nete Brow­ser sind Fire­fox, Mozilla, Google Chrome. (Bei ande­ren Brow­sern könn­ten die Bil­der zer­schnit­ten werden.)