Vierwaldstättersee Autofähre Tellsprung im Winter zwischen Kehrsiten Dorf und Stansstad
Über 120 000-mal fuhr die Vierwaldstättersee-Autofähre Tellsprung (II) zwischen dem Niederdorf in Beckenried und dem Förstli in Gersau hin und her, und dies seit 1964 (fast) jeden Tag jeweils ungefähr zwischen dem Seppitag im Frühling und Allerheiligen im Herbst. Für die Anwohner sind Fähren wie Pendeluhren: Man nimmt sie zwar zur Kenntnis, beachtet sie aber kaum. Umso auffälliger, ja irritierender ist es, wenn Fähren plötzlich andere Wege einschlagen. So war die „Romanshorn“ auf dem Bodensee auch schon im Hafen Kreuzlingen zu sichten, als die Autofähre als SBS-Kursschiff einspringen musste. Am deutschen Ufer kommt das ebenfalls ab und zu vor, wenn die Fähre Friedrichshafen als Passagierschiff der BSB unterwegs ist.
In diesem und nächsten Winter macht die „Tellsprung“ II nochmals ganz neue „Sprünge“. Die Kehrsitenstrasse wird vollständig erneuert. Zu diesem Zweck wird sie zwischen Stansstad und Kehrsiten-Dorf in diesem Winter temporär und im kommenden ganz gesperrt. Von Montag bis Freitag zwischen 08.45 und 16.25 Uhr übernimmt heuer die Autofähre den Zubringerdienst zwischen den beiden Orten, dies vom 26. Oktober 2020 bis zum 1. April 2021. Von 17.00 Uhr bis 08.00 Uhr ist die Strasse offen. An Weekends und über die Festtage herrscht Einbahnverkehr. Welche Dienstzeiten und Verkehrsperioden im kommenden Winter gelten werden, wird erst nach der Auswertung von Erfahrungen im Herbst 2021 publiziert3. Sicher ist, dass der Schiffs- und Fährverkehr dann noch interessanter wird. Denn zwischen November 2021 und April 2022 wird die Strasse Tag und Nacht und auch am Wochenende gesperrt sein.
Attraktives Winterangebot mit 30-Minuten-Spaziergang
Ich besteige in Luzern den Bürgenstock-Shutle; coronabedingt ist die erste Fahrt um 10.07 Uhr angesetzt. Draussen schneit es und drinnen scheint es, dass die Kälte von aussen in den Raum übertragen wird. Das futuristische Aussendesign des Katamarans Bürgenstock, der im Volksmund „Heugümper“4 genannt wird, steht in Kontrast zu einer billig wirkenden Flugzeugbestuhlung und einer spartanischen Einrichtung im Innern. Immerhin erfreut ein Kaffee- und Getränkeautomat die Herzen der Fahrgäste, womit zurzeit die „Bürgenstock“ als einziges SGV-Schiff ein kulinarisches Angebot bieten darf. Die Zeit zwischen der Ankunft in Kehrsiten-Bürgenstock und dem Abfahrtort der Fähre bei Mattliweid (Hotel Baumgarten, etwas nach Kehrsiten-Dorf) reicht gut, um einen gemütlichen Spaziergang zu unternehmen und die Ruhe dieser idyllischen Landschaft zu geniessen. Ausser einem mir entgegenkommenden Schneepflug, der ebenfalls per „Tellsprung“ nach Kehrsiten gefahren wurde, bin ich mutterseelenallein unterwegs.
Umso erstaunter bin ich, als um 11.05 Uhr der Stauraum für die Fähre in Kehrsiten gefüllt ist. Rund ein Dutzend Autos wollen mitgenommen werden: der Kaminfeger, der Pöstler, der Einheimische, Camioneure – da ist was los. Die Fährimänner Andreas Fischer und Adrian Imgrüth bestätigen: „Das Angebot entspricht einem Bedürfnis; wir transportieren täglich 100 bis 150 Fahrzeuge.“ Für Fussgänger hat es einen geheizten Raum an Bord, der ebenfalls mit einem Konsumationsautomaten ausgerüstet ist. Die Fahrt nach Stansstad löst Nordsee-Gefühle aus, denn es scheint, als würden wir während 20 Minuten zu einer einsamen Insel fahren. See, Landschaft und wolkenverhangener Himmel unterschieden sich nur durch Grautöne. In Stansstad kommen wir direkt bei der Acheregg-Brücke an – ebenfalls ein Bild, das ans Meer erinnert, wo doch Brücken zum Alltagsbild eines Ortes gehören.
In kurzer Gehdistanz erreiche ich den Bahnhof Stansstad. Auch umgekehrt geht die Reise wunderbar auf: Nach Ankunft der „Tellsprung“ in Kehrsiten-Dorf um xx.05 erreicht man zu Fuss den Bürgenstock-Shuttle, der um xx.35 abfährt. Hier lohnt sich vorab ein Blick ins Internet, denn diese Verbindung ist nicht mehr konsequent im Stundentakt (z.Z. 7 Kurspaare pro Tag), während die „Tellsprung“ einen konsequenten Stundentakt anbietet. Verbesserungswürdig scheint mir der ÖV-Umstieg zwischen der Zentralbahn und der Fähre in Stansstad zu sein, liegen doch 33 Minuten Wartezeit dazwischen.
Bis diese „fahrende Strasse“ realisiert werden konnte, hatte es in Nidwalden viel politischen Aufwand gebraucht, wobei es nicht an der Fähre lag. Ein erstes Projekt zur Sanierung der 140-jährigen Kehrsitenstrasse überschritt die vom Landrat bewilligten 16 Millionen Franken bei Weitem, sodass der Regierungsrat das Projekt neu aufgleisen musste, was zu einer Verzögerung um ein Jahr führte. Baudirektor Josef Niederberger wies bei der Eröffnung der Linie am 26. Oktober 2020 darauf hin, dass die „Tellsprung“ nicht nur für die Einwohner von Kehrsiten im Einsatz stehe: „Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Velofahrer und Fussgänger diese Transportmöglichkeit in Anspruch nehmen werden.“ Die Kosten der Fährverbindung übernimmt der Kanton Nidwalden. Nach anfänglicher Skepsis zeigen sich auch die Kehrsiter mit dem Konzept zufrieden: „Die Fähre ist eine gute Lösung. Damit können alle leben,“ meinte ein Anwohner in den Medien. Schade, dass ausgerechnet jetzt die schönen Beizlis im Ort zwangsweise geschlossen bleiben. Zum Glück hat‘s Automaten auf beiden Schiffen…
Aufregende Geschichte der Fähre in den letzten 15 Jahren
Seit 1930 besteht die Fährverbindung zwischen Beckenried und Gersau. Alois Waser senior (1863−1954) und junior (1893−1973) gründeten und führten in der Folge diese älteste Autofähr-Verbindung der Schweiz. Nach 30 Jahren verkauften sie den Betrieb an Otto Gander, der schon in seinem ersten Betriebsjahr 1960 die Anlegestelle in Beckenried vom Boden ins Niederdorf zum Hotel Sternen, das sein Vater führte, verlegte. 1962 folgte dann die Verlegung der Anlegestelle in Gersau von der Wehri zum Förstli. Die wartenden Autos verstopften an Sonntag immer wieder die beiden Dorfkerne, was in der Bevölkerung zu grossem Unmut führte. Mit der neuen Verbindung kamen somit beide Stationen fast zwei Kilometer westwärts und damit deutlich weg von den Dorfkernen gelegen.
1963/64 lässt Gander aus Teilen der alten Fähre eine neue erbauen und erhöht damit die Kapazität von bisher 16 Autos auf über 40. Der Selfmademan und Macher übernimmt dann den Betrieb seines Vaters mitsamt der Schnapsbrennerei. 1970 baut er ein grosses Hotel und eröffnet eine gewerbliche Fischerei. 1980 wird der Seelisbergtunnel der Autobahn N2 eröffnet, ein für den Fährbetrieb einschneidendes Ereignis, dies ausgerechnet zum 50-Jahr-Jubiläum der Fähre. Bis dahin war der Seeweg für Autos von Beckenried aus das einzige Weiterkommen Richtung Ostschweiz. Dies wird nun schlagartig anders. Die Fahrzeugfrequenzen sinken von 92 640 im Jahr 1979 auf unter 10 000 im Jahr 19815. Als der Patron 2003 stirbt, geht die Autofähre an seine Tochter Carmela über. Sohn Otto jun. hätte das Hotel Sternen (heute Seerausch) übernehmen können, das er Jahre zuvor bereits führte. Otto Gander jun. musste dies wegen geerbten Schulden aber ablehnen, da ihn sonst die Banken in den Konkurs getrieben hätten. Somit kam das Hotel zur Porr Suisse AG, zu einer österreichischen Bauunternehmung gehörend, und die Fähre zur Familie Carmela und Zarko Vujovoc-Gander.
Ein notwendiger Landabtausch scheiterte und damit begannen über Jahre dauernde unüberwindbare Schwierigkeiten, Rechtstreitigkeiten und Querelen. In diesem Streit gab es schliesslich nur Verlierer. Als erstes warf die Porr Suisse den Bettel hin und verkaufte Ende 2012 das Hotel Sternen sowie die Anlegestelle Gersau an die einheimische Firma F&R Gruppe aus Beckenried (heute Stansstad). Sie sanierte das Hotel und eröffnete es 2014 unter dem neuen Namen Seerausch. Auch sie waren mit schwierigen Besitzerverhältnissen konfrontiert. Dazu kam, dass der Fährbetrieb die behördlichen Auflagen nicht mehr erfüllte und deshalb die „Tellsprung“ im Juni 2013 für rund 10 Tage stillstand6. Nach weiteren vorab finanziellen Schwierigkeiten gab dann 2016 die Eigentümerfamilie der Fähre auf und somit blieb den beiden Kindern von Otto Gander sen. nichts mehr vom erschaffenen Imperium des damaligen Dorfkönigs.
Andy Gerbhahn, damaliger Geschäftsführer des Fährbetriebs: «Wir übernahmen die Fähre inkl. das Fährhaus mit der Brennerei und die Anlegestelle Beckenried im März 2016 von Zarko Vujovic-Gander. Die Saisons 2016 und 2017 wurden durch uns geführt, ab der Saison 2018 hat dann Mick Baumgartner als Pächter die Fähre übernommen.» 2019 wurden Hotel und Fähre an die Kipfer GmbH Buochs verkauft. Theodor Kipfer ist somit der fünfte Eigentümer in der 90-jährigen Geschichte des Fährbetriebes. Mick Baumgartner bleibt weiterhin Pächter der Fähre.
Fähre Tellsprung legt in Kehrsiten-Dorf an.
Einzige Stelle weit und breit, wo auf 100 m Strassenlänge sich Autos kreuzen können: die „Tellsprung“ entlässt die Fahrzeuge von Stansstad kommend, während die Kehrsiter auf die Verladung warten.
Im weiten Bogen lassen wir Kehrsiten-Dorf hinter uns; die SGV-Station ist links von der Kapelle zu erkennen.
Nordsee-Feeling mit Kurs Süd
Stansstad in Sicht, in der Mitte ist die SGV-Station zu erkennen.
Hafeneinfahrt nach 20-minütigem Seefahrt-Erlebnis
Schneeräumung im Fährehafen Stansstad
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
1) Christoph Näpflin, der Betriebsleiter der Treib-Seelisberg-Bahn erinnert sich noch gut daran: „Die Strasse war wegen Erdrutsch im 1. Halbjahr 1999 zwischen Beckenried und Emmetten immer wieder unterbrochen, dies während rund 14 Tagen. An diesen Sperrtagen wurde der öV von und nach Beckenried via Seelisberg und Treib aufrechterhalten und am Morgen und Abend mit einer Fährverbindung mit der ‘Tellsprung’ zwischen Treib und Beckenried für ‘eingeschlossene’ Fahrzeuge an mehreren Tagen unterstützt.»
2) „50 Jahre Autofähre Beckenried – Gersau“, H. Amstad 1980 (Link)
3) Zum Fahrplan (Link)
4) Schweizerdeutscher Ausdruck für Heuschrecke
5) 2013 gab Zarko Vujovoc in der Presse an, 15 000 Fahrzeuge zu transportieren, 2018 sprach Andreas Grebhahn von 20 000 Fahrzeugen und zu 2020 sagt Mick Baumgartner: „Wir haben rund 35 000 Fahrzeuge transportiert, wobei in der Sommersaison mehr als die Hälfte davon Velos waren.»
6) (B)Logbuch-Eintrag 2013 über Schwierigkeiten des Betriebes (Link)
Impressum
Text und Bilder H. Amstad, Karte Baudirektion Kanton Nidwalden
Bewertung abgeben 🙂
Archivierung

Zum Archivieren oder Ausdrucken dieses Medienberichtes aktivieren Sie das Icon. Bevor Sie das PDF sichern, drucken oder ablegen empfehlen wir, zur optimalen Darstellung, die Ausrichtung Querformat in der Grösse 80 %. Geeignete Browser sind Firefox, Mozilla, Google Chrome. (Bei anderen Browsern könnten die Bilder zerschnitten werden.)
Informativ und erhellend – wie immer!
Jürg Meister
Die gute alte «Tellsprung»… Erinnerungen verblassen, Bilder bleiben (manchmal):
https://dwilkens.de/dietmar/9th_World_Meeting_of_2CV_Friends_1991/slides/mutant_CH0017.htm
https://dwilkens.de/dietmar/9th_World_Meeting_of_2CV_Friends_1991/slides/mutant_CH0018.htm
Hoffentlich komme ich mal wieder in diese Gegend 😉