Finn­land: 130 km his­to­ri­scher Was­ser­weg mit dem Trag­flü­gel­boot über den Keitele-Kanal

Da an Sonn­ta­gen der fin­ni­sche Damp­fer Suomi sei­nen Ruhe­tag hat, finde ich in Jyväs­kylä eine inter­es­sante Alter­na­tive. Das ein­zige Trag­flü­gel­boot auf fin­ni­schen Seen, das öffent­li­che Fahr­ten anbie­tet, fährt an den Juli­sonn­ta­gen durch den Keit­e­le­ka­nal von Jyväs­kylä nach Vii­ta­saari. Es ist ein reg­ne­ri­scher Sonn­tag, ich stehe eine Vier­tel Stunde vor Abfahrt vor dem Schiff, doch alles ist noch ver­rie­gelt, keine Crew weit und breit, auch keine Fahr­gäste. Musste man sich anmel­den? Ich beschliesse, bis neun Uhr zu war­ten und über­lege mir in der Zwi­schen­zeit Alter­na­ti­ven. Fünf Minu­ten vor Abfahrt fährt ein Auto vor. Fünf Per­so­nen stei­gen aus, es scheint, dass sie etwas mit der «Suvi Express» zu tun haben. Sie steu­ern schnur­stracks aufs Schiff los. Und siehe da: punkt neun Uhr star­tet der Maschi­nist (der zugleich Matrose ist) den Geni und bald dar­auf den 1000-PS-star­ken Haupt­mo­tor. Die Fahrt beginnt und ich bin als ein­zi­ger Fahr­gast noch nicht aus dem Irri­ta­ti­ons­mo­dus erwacht. Der Him­mel reisst auf, es beginnt eine fas­zi­nie­rende Fahrt durch einen Dschun­gel von Inseln vor und nach dem 1994 erwei­ter­ten Keitele-Kanal.

Obschon die regu­läre Rei­se­ge­schwin­dig­keit der «Suvi Express» 64 km/​h beträgt ist die Rei­se­zeit mit fast fünf Stun­den wesent­lich län­ger als dies die zurück­le­gen­den 130 Kilo­me­ter ver­mu­ten las­sen. Da sind mal fünf Schleu­sen mit ins­ge­samt 22 Metern Höhen­un­ter­schied zu über­win­den, wobei die letzte mit 8,5 m die höchste ist. An gewis­sen Stel­len sind Geschwin­dig­keits­be­gren­zun­gen gesetzt. Bei der Schleuse Paa­tela gibt es aus­ser­dem eine Stunde Auf­ent­halt, in der man die impo­sante Schleuse besich­ti­gen kann, denn die Crew macht hier Mit­tags­pause. Gut zu wis­sen für ein ander Mal, denn an Bord gibt es nur Getränke und Kuchen. Ein ande­res Mal? Da bin ich etwas unsi­cher. Mein Obu­lus für den Fahr­preis wird nicht rei­chen, was die Maschine rein an Die­sel braucht. In die­sem Som­mer fährt das Schiff jeweils an den fünf Wochen­en­den im Juli: am Sams­tag nach Lahti, am Sonn­tag nach Vii­ta­saari. In Paa­tela stei­gen dann nach der Mit­tags­pause noch wei­tere sechs Per­so­nen ein.

Die Rol­len des Fün­fer­teams sind nun auch für Aus­sen­ste­hende geklärt: nebst dem Kapi­tän und dem Maschi­nis­ten amtet wei­ter eine Frau als 2. Mat­ro­sin und Buf­fet­dame. Dann fährt auch der gesund­heit­lich etwas ange­schla­gene Eig­ner mit, der die Fahr­preise ein­kas­siert. Er betreibt auch das Restau­rant bei der Schleuse Paa­tela und es scheint, dass das Schiff sein Hobby ist, denn finan­zi­ell wird der Pen­sio­när mit die­sem Ange­bot nicht «reich». Der fünfte Mann ist der Chauf­feur, der die Crew jeweils mit dem Auto vom Hei­mat­ha­fen Paa­leta (Gemeinde Suo­lahti) nach Jyväs­kylä bringt.

Bei Geschwin­dig­kei­ten unter 30 km/​h kann ich aufs Ober­deck und geniesse Impres­sio­nen der Fin­ni­schen Seen­platte. Sonst nimmt man auf einem der 51 Sitze im Inne­ren Platz, wo das Fahr­ver­hal­ten des tech­ni­schen «Wun­der­dings» erstaun­lich ruhig ist. Auf der Front­wand des Salons zeigt ein Gross­bild­schirm die Route auf einer Karte an, ein zwei­ter zeigt den Blick, den der Kapi­tän nach vorne hat. Obwohl erst 1989 in Bela­rus (ex-UdSSR) erbaut, strotzt das aus Alu­mi­nium erbaute Schiff vor tech­nisch-nost­al­gi­schem Design. Dazu gehö­ren ebenso die klas­si­schen Dreier-Alu­sitze im Flug­ses­sel­mo­dus wie die spar­ta­nisch anmu­tende Aus­rüs­tung des Steu­er­hau­ses, die einem Cock­pit eines Flug­zeu­ges aus den Sech­zi­ger­jah­ren gleicht. Auch ein Blick in den Maschi­nen­raum wird mir gewährt.

Ein­ge­setzt wurde das Schiff* ursprüng­lich in Tartu (Est­land). Nach 20 Jah­ren kam es 2009 nach Finn­land, wo es im Jahr 2011 die ein­hei­mi­sche Flagge bekam. Ein Jahr zuvor wurde der rus­si­sche Die­sel­mo­tor durch einen deut­schen MTU-Motor ersetzt. Auch im Osten Euro­pas sind diese Trag­flü­gel­boote vom Typ Pole­sye nur noch sel­ten anzu­tref­fen. So hat die MAHART auf der Donau noch ein sol­cher Schiffs­typ, nebst ande­ren des Types Voschod. Der dritte Typ der rus­si­schen und ukrai­ni­schen Pro­duk­tion sol­cher Trag­flü­gel­boote ist die Serie Raketa; ein Exem­plar war Z.B. die «Rhein­pfeil» der KD.

Die Fach­li­te­ra­tur geht heute davon aus, dass es dem ita­lie­ni­schen Inge­nieur Enrico For­la­nini zwi­schen 1895 und 1905 auf dem Gar­da­see gelun­gen ist, das grund­sätz­li­che Funk­ti­ons­prin­zip des Trag­flü­gel­boo­tes zu ent­wi­ckeln. Ver­schie­dene Inge­nieure arbei­te­ten dann am Prin­zip wei­ter und mach­ten unab­hän­gig in Eng­land, in Ame­rika und in Deutsch­land bis zum 2. Welt­krieg Wei­ter­ent­wick­lun­gen. Wäh­rend des Krie­ges hat dann der deut­sche Gene­ral­stab ent­schie­den, den Bau von Trag­flä­chen­boote bei der Werft Sach­sen­berg für den Kriegs­ein­satz zu for­cie­ren. Dem Inge­nieur Hanns von Scher­tel waren dazu ent­schei­dende Ent­wick­lun­gen gelun­gen. Nach dem Krieg führte der Weg zur Wei­ter­ent­wick­lung von Trag­flü­gel­boo­ten in die Schweiz. Der letzte Direk­tor der Supra­mar, Harry Tre­vi­sani aus Lin­dau, berich­tet mir: „Nach Been­di­gung des 2. Welt­krie­ges über­nah­men die Rus­sen die Sach­sen­berg Werft in Des­sau-Ross­lau und die tech­ni­sche Beleg­schaft, dar­un­ter einige bedeu­tende Wis­sen­schaft­ler. Andere wie Hanns von Scher­tel setz­ten sich in den Wes­ten ab und bil­dete dann den Grund­stock des tech­ni­schen Per­so­nals der Supra­mar AG.“

Die Supra­mar AG wurde am 29. Mai 1952 mit Sitz in Zug gegrün­det. Grün­der waren einer­seits Hanns von Scher­tel und Gott­hard Sach­sen­berg für das Scher­tel-Sach­sen­berg-Schnell­boots-Kon­sor­tium und von Schwei­zer Seite die Direk­to­ren der Kre­dit- und Ver­wal­tungs­bank Zug mit Albert Zür­cher, Max Kauf­mann und Domi­nik Wiget. Das Kon­sor­tium stellte der Firma die lang­jäh­rig erwor­be­nen For­schungs- und Ent­wick­lungs­er­geb­nisse zur Ver­fü­gung, die Zuger Bank die erfor­der­li­chen finan­zi­el­len Mit­tel für die indus­tri­elle Nutz­bar­ma­chung der Pro­dukte. Das Kon­struk­ti­ons­büro war in Luzern, die Pro­duk­tion auf dem Areal der Waser-Werft in Stans­stad. Dort gelang das welt­weit erste Pas­sa­gier-Trag­flü­gel­boot, der TP10 für 32 Pas­sa­giere und einer Geschwin­dig­keit von 65 km/​h. Es absol­vierte auf dem Vier­wald­stätter­see etli­che Pro­be­fahr­ten. Die erste fahr­plan­mäs­sige Ver­bin­dung der Welt erfolgte dann im Mai 1953 zwi­schen Locarno (Schweiz) und Stresa (Ita­lien) auf dem Lago Maggiore.

Vol­ker Jost, ehe­ma­li­ger Ver­wal­tungs­rats­mit­glied der Supra­mar gegen­über der Schiffs-Agen­tur: „Der erste Lizenz­neh­mer der Supra­mar AG war die Firma Can­tieri Navale Rodri­quez in Mes­sina. Im Laufe der Jahre kamen wei­tere Lizenz­neh­mer in den Nie­der­lan­den, Nor­we­gen, Eng­land, Sin­ga­pore, Japan und Hong Kong dazu.“ Das erste Trag­flä­chen­boot auf dem Meer war dann die «Freccia del Sole», gebaut 1956 durch Rodri­quez von Mes­sina. Diese Werft bediente dann auch die ober­ita­lie­ni­schen Seen, wo die Ali­s­cafi, wie diese Schiffe auf ita­lie­nisch heis­sen, bis heute im Ver­kehr ste­hen. Harry Tre­vi­sani: „Auf­grund ver­trag­li­cher Dif­fe­ren­zen hat sich die Supra­mar AG Ende der 60-ziger Jahre von dem Lizenz­neh­mer in Mes­sina getrennt. Die ande­ren Lizenz­neh­mer pro­du­zier­ten wei­ter­hin die Fahr­zeuge auf ihren Werf­ten.“ Und Vol­ker Jost ergänzt: „Die Supra­mar AG in ihrer ursprüng­li­che Form ist inzwi­schen liqui­diert. Jed­wel­che Firma, die die­sen Namen führt, hat nichts mit der ursprüng­li­chen Supra­mar AG zu tun.“

Inzwi­schen sind wir um 13.45 Uhr in Vii­ta­saari ange­kom­men. Von hier aus füh­ren einige Bus­ver­bin­dun­gen zurück nach Jyväs­kylä, ein sel­te­nes Schiff­fahrts­er­leb­nis geht zu Ende. Noch gehe ich der Frage nach, wie das Know-How von der Sach­sen­berg-Werft nach Russ­land kam, wo in den Nach­fol­ge­jah­ren Hun­derte von Trag­flü­gel­boote wie die „Suvi Express“ pro­du­ziert wur­den. Harry Tre­vi­sani ist aber über­zeugt: „Die rus­si­schen Trag­flü­gel­boote sind aus­schliess­lich eine Ent­wick­lung der Rus­sen und haben nichts mit dem Scher­tel-Sach­sen­berg Sys­tem zu tun; sie basie­ren auf ande­ren Grundlagen.“

Die „Suvi Express“ unter­wegs auf dem Päi­jänne-Sees Rich­tung Jyväskylä.

Vor und nach dem Kei­teke-Kanal durch­rast das Trag­flü­gel­boot des Typs Pole­sye typisch-fin­ni­sche Seen­land­schaf­ten mit 60 km/​h.

Steu­er­bord-Posi­ti­ons­lampe mit Blick zum Steuerhaus.

Die fünf Schleu­sen des Kei­tele-Kanals ver­bin­det das Seen­sys­tem von Päi­jänne mit dem Kei­te­le­see (100 m ü M). Die Schleu­sen des 1993 fer­tig erstell­ten, schiff­ba­ren Kanals sind prag­ma­tisch gebaut: Das Was­ser strömt in und aus der Schleuse ohne auf­wän­dige Kanal­sys­teme durch Öff­nen der Tore. Damit die Schiffe in den Schleu­sen nicht unnö­tig Gefah­ren aus­ge­setzt wer­den fliesst das Was­ser bei hohen Schleu­sen auf einen Beton­pol­ler (Bild­mitte). Bei gefüll­ter Schleuse ist die­ser so tief, dass er für Schiffe keine Gefahr darstellt.

Blick ins Cock­pit (sprich Steu­er­haus) der „Suvi Express“.

Der Eig­ner (links im Bild) begrüsst die in Paa­tela die zuge­stie­ge­nen Gäste.

Text und Bil­der H. Amstad, Karte www​.fin​boat​.fi.

Durch Klick aufs Bild erscheint die­ses im Grossformat.

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Hin­weise

*) Bau­jahr 1989, L 21,32 m, B 5 m, Tief­gang 1,2 m, Ver­drän­gung 15 m³ bei klei­nem Tempo, Höchst­ge­schwin­dig­keit 80 km/​h, MTU 8‑Zy­lin­der-Die­sel­mo­tor 39,6 l mit 1078 PS.

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