Kultur-Spektakel auf dem Bodensee: Romanshorner Luftspiele
Zugegeben, ich verstehe auf Anhieb nicht vieles von dieser Kunst-Performance. Ein rosaroter Heissluftballon in Form eines Kuheuters setzt sich in den Schnittpunkt der drei sich gegenüberstehenden Schiffe Oesterreich, St. Gallen und Säntis. Drei Mal drei Alphörner, verteilt auf die Schiffe, und eine Frauenstimme im vergoldeten Korb des Ballons interpretieren den traditionellen Alpsegen neu. Das Programmheft hilft mir nicht weiter: „Die soziale Skulptur EUTER deutet als friedvolles Himmelszeichen auf gesellschaftliche Transformationen hin und schenkt Pionierhaltungen in aktuellen Themenbereichen wie nachhaltiger Landwirtschaft, ressourcenschonendes und ethisches Handeln eine höhere Sichtbarkeit.“ Der Start des Kulturevents im Schweizer Teil des Bodensees beginnt für mich harzig; es scheint, dass niemand so recht weiss, was da kommen wird.
Um es vorweg zu nehmen: der Abend endet mit tollen Bildern und Erlebnissen und alle Fahrgäste gehen zufrieden und bereichert mit neue Gedanken und Einsichten von Bord. Doch jetzt der Reihe nach: Drei Künstlerinnen aus drei Ländern gestalten eine gemeinsame Performance. Im Gegensatz zu einer Ausstellung, eines Romans oder einer Musikkomposition, die man wiederholt hören, lesen oder anschauen kann, war der Anlass „Romanshorner Luftspiele“ ein einmaliges Kunsterlebnis1. Initiant ist der MS Oesterreich-Förderer und ‑Gesellschafter Markus Flatz, Inhaber eines bedeutenden Ingenieurbüros für Statik im Vorarlberg. Er findet in der Person von Hermann Hess, VR-Präsident und Hauptaktionär der Schweizer Bodenseeflotte einen ebenfalls kulturinteressierten Partner, wobei der Boden (sprich das Wasser) für die notwendige „Hardware“ des Kunstprojektes schon mal gegeben ist.
Drei Kunstschaffenden gelingt ein Gesamtwerk
Für die bildende Künstlerin Barbara Anna Husar, Schafferin der Skulptur des Heissluftballons, bedeutet das Euter „ein Sinnbild für Mammalia, Weiblichkeit und Urquelle alles Nährenden“. Die Österreicherin beschäftigt sich seit 2018 mit diesem Thema im Rahmen ihrer sogenannten „EUTER-Erhebungen“ (übersetzt: Kunstanlässe). Die Romanshorner Luftspiele ist ihre 16. „Erhebung“, wobei sie mit diesem Begriff weniger die Ausstülpungen der Kuh-Brustwarzen meint als vielmehr den Sinn eines Protestes ausdrücken will. Sie will darauf aufmerksam machen, wie der menschliche Maximierungswahn das Tier „erbarmungslos ausbeutet“. Ihre Idee für den heutigen Abend ist ein „multisensuales Konzerterlebnis zwischen Zitzen, Luft und Wasser.“
Für ein Konzert braucht es Musik und die liefert die Komponistin Ronja Svaneborg aus Dänemark mit dem Stück „Ritual Echos“. Neun Alphörner ertönen im Wechsel von den drei Schiffen wie ein musikalischer Betruf von drei entfernten Alphütten herunter, klar hörbar, aber weit weg scheinend, sich treffend auf einer unscheinbaren Bühne zwischen See und Himmel. Die Stimme (der Komponistin selbst) ertönt vom Ballon aus. Der Lärm des Bugstrahlruders von MS St. Gallen und das Brennergeräusch des Ballons unterbrechen abrupt die andächtige Stimmung und bringt die Zuhörerinnen und Zuhörer wieder in die Realität zurück.
Die dritte Künstlerin ist die Schweizerin Regina Hügli und ermöglicht mir den Zugang zum Verstehen des heutigen Kunstanlasses. Ihre an Bord ausgestellte Arbeit fasziniert mich: Sie hat in Europa nach Quellgebietsregionen gesucht, in denen jeweils drei Ströme entspringen, die in unterschiedliche Meere münden. Sie fand in ganz Europa vier solcher Dreifachwasserscheiden: je eine in Frankreich (bei Récourt) und auf der Grenze Tschechien/Polen (am Klepac/Maly Snieznik) und zwei in der Schweiz (am urnerischen Witenwassererenstock und auf dem Bündner Pass Lunghin)2. Die Euter-Skulptur, der musikalische Alpsegen mit 3 x 3 Alphörner, die Dreifachwasserscheiden, die drei Schiffe auf einem See mit drei Ländern: das Gesamte fügt sich im Verlaufe des Abends immer mehr zusammen und erzielt eine erstaunliche Wirkung und Aussagekraft.
Auch nautisch ein interessanter Abend
Am Rande von Kunst und Performance wird unter Schiffsfreunden auch gefachsimpelt. Für die Szene eher überraschend kommt tags zuvor die Meldung vom SBS-Verwaltungsrat, dass CEO Andrea Ruf ihre Tätigkeit bei der SBS auf Ende April beenden will. Dies „aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Unternehmensführung», wie es in der Mitteilung heisst. Ihr gelang es, während der letzten zehn Jahre (nachdem sie zuvor drei Jahre das Marketing und den Verkauf leitete) die SBS in vielen Belangen schweizweit zu einer Vorzeigereederei zu entwickeln. Andrea Ruf hat intensive Jahre erlebt mit zwei umfassenden Schiffs-Renovationen der „Säntis“ und „St. Gallen“, dem Werftumbau und dem Bau der neuen Plattform der Schiffsanlegestellen im Romanshorner Hafen. Die letzten zwei Jahre Corona haben nachhaltige Spuren hinterlassen.
SBS-Verwaltungsratspräsident Hermann Hess geniesst heute Abend ebenfalls an Bord der „St. Gallen“ das Geschehen. Darauf angesprochen meint er, um aus dem Tief wieder herauszukommen, müsse die SBS im Verkauf und Vertrieb an Schlagkraft gewinnen. «Wir werden daher die CEO-Position nach der Übergangsphase mit Benno Gmür3 baldmöglichst neu besetzen mit dem Ziel, das unternehmerische Denken und Handeln zu stärken.» Er betont, dass Andrea Ruf «das volle persönliche Vertrauen des Verwaltungsrates» habe. Andrea Ruf, selber anwesend auf MS Säntis, meint, alles habe seine Zeit: «Ohne Abschied kein Wiedersehen. Ich bin glücklich und dankbar, so lange Teil der SBS gewesen sein zu dürfen. Doch ohne inneres Feuer macht es keinen Spass.»
Ende Jahr 2021 ging auch schon der Chefkapitän (auf dem Bodensee Oberkapitän genannt) Erich Hefti frühzeitig in Pension. Er ist im Februar 1981 in den Romanshorner Schiffsdienst eingetreten, der damals den SBB gehörte. Von 2000 bis 2007 war er ausserdem Verantwortlicher für das nautische Fahr- und Betriebsmanagement beim Fährbetrieb der Stadtwerke Konstanz, wo er unter anderem Fähre-Kapitäne ausbildete. Als Leiter Nautik und Werft wirkte er auch bei der Firmenentwicklung der SBS mit und war Mitglied der Geschäftsleitung. Sein Nachfolger heisst Silvan Paganini. Der Wirtschaftsingenieur und nautische Offizier mit Kapitänspatent in der Hochsee-Schifffahrt verfügt über eine langjährige multinationale Führungs- und Projekterfahrung.
Auf die Zukunft der beiden charaktervollen, bald 100-jährigen Schiffe Zürich und Thurgau angesprochen, meint Hermann Hess: «Wir brauchen diese Schiffe und wir werden mindestens je vier Millionen Franken in sie investieren.» Grund für die bevorstehenden Umbauten sind die Neumotorisierungen. «Die Frage, die uns intensiv beschäftigt, ist die Art des Antriebes,» ergänzt er. Hess schliesst nicht aus, dass es wieder Dieselmotoren sind. Auch sonst geht die Arbeit der SBS nicht aus. Soeben hat das Bundesgericht sämtliche Beschwerden gegen den Bau eines kostenpflichtigen Kinder- und Freizeitparkes auf der Bunkerwiese abgewiesen. Somit kann die SBS das seit 2016 geplante, drei Millionen teure Projekt auf der attraktiven Hafenmole Ost neben dem Kornhaus in Angriff nehmen. Mit Blick auf die Zukunft ist Hermann Hess überzeigt, dass der mit 25 Millionen veranschlagte Bau eines neuen Hotels am Hafen ein Erfolg wird und die Finanzen seiner Schifffahrt stabilisiert.
Zurück auf den See und zum heutigen Abend. Vor Arbon verabschiedet sich die «Oesterreich» von den zwei anderen Schweizer Schiffen und der Abend scheint gelaufen zu sein. Doch dann kommt alles anders. Die Sonne strahlt kurz vor 19.00 Uhr erstmals am heutigen Tag und der Kapitän Florian Pausch von der MS Oesterreich besinnt sich, dass sie ja erst um 22.30 Uhr im Hafen Hard einlaufen werden. So kehrt das Art-Déco-Schiff wenig später überraschend zurück zu unserem Duo. Die drei Kapitäne lassen nun unter Beifall des Publikums und ungeplant mit diversen Formationsfahrten eine neue Inszenierung des Kunstabends starten. Gleichzeitig spielen die drei Alphorntrios im Wechsel «um die Wette». Zusammen mit der im Westen untergehenden Sonne lässt diese eine einmalige Stimmung niemand kalt. Ein eher schwierig begonnener Abend endet mit sensationellen Stimmungen für Auge, Ohr und (mit dem Fahrwind) Haut. Auch das ist Kunst – auf andere Weise. Die ebenfalls anwesende «Hauptnavigatorin» Barbara Husar tanzt auf der «Oesterreich» und zeigt sich beglückt über den gelungenen Abend.
Romanshorner Luftspiele 2022: die drei Schiffe bilden „ein Triptychon5“, in der Mitte stellt sich „die soziale Skulptur EUTER“ auf (Zitate der Kunstschaffenden).
Die drei Schiffe symbolisieren in der Sternformation die Dreiwasser-Scheiden der fotografischen Arbeit von Regina Hügli. Der Euter-Ballon zeigt für mich die Zufälligkeit, wohin am Punkt des Zusammenkommens der drei Linien die Milch (resp. in der Natur das Wasser) fliesst: es können als Ziel an vier Orten in Europa drei verschiedene Meere sein6.
3 000 m3 erhitzte Luft lässt das Kuheuter der Künstlerin Barbara Husar prall voll werden.
Ronja Svaneborg hat zum Anlass der Romanshorner Luftspiele mit „Ritual Echos“ ein moderner Alpsegen für neun Alphörner und eine Stimme komponiert.
Die Skulptur-Künstlerin Barbara Anna Husar7 zeichnet als künstlerische «Navigatorin» der Performance verantwortlich, Kapitän Florian Pausch vom MS Oesterreich sorgt dafür, dass zusammen mit den beiden Kollegen Flavio Cason vom MS Säntis und Thomas Friederich vom MS St. Gallen auch die nautischen Herzen höher schlagen.
Die Euter-Zitzen auf den orangen Westen deuten auf die Möglichkeit, mehr über die Inszenierung zu erfahren. Dazu kann man diese Personen ansprechen, um individuell ins Gespräch und in die Auseinandersetzung mit dem Projekt einzutauchen.
Ein flauer Frühlingsabend, ein kitschiger Sonnenuntergang und wunderbare Kompositionen der auf den drei Schiffen im Wechsel spielenden Alphorntrios runden den erlebnisreichen Abend geradezu perfekt ab.
Die letzten roten Sonnenstrahlen beleuchten die beiden SBS-Schiffe Säntis und St. Gallen, vom MS Oesterreich aus fotografiert.
Bild im Textteil: Eine Woche vor der offiziellen Bodensee-Sternfahrt vom 30. April geben die drei Schiffe einen schönen Vorgeschmack auf eine kommende, erlebnisreiche Schifffahrtssaison.
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
1) Im August 2020 fand erstmalig, aber in einer anderen Form, ein Euter-Luftspiel satt: MS Oesterreich und DS Hohentwiel begegneten damals dem Heissluftballon EUTER in Bregenz.
2) Für die geografisch interessierten Leserinnen und Leser hier die Details4:
Auf dem Plateau de Langres in Frankreich kann ein Regentropfen in den Atlantik (über die Marne und Seine), in die Nordsee (über die Meise/Maas und Rhein) oder ins Mittelmeer (über die Vingeanne, dann in die Saône und Rhône) fliessen. Am Witenwasserenstock im Kanton Uri kann ein Regentropfen ins Mittelmeer (über die Rotten/Rhône), in die Nordsee (über die Reuss, Aare und den Rhein) oder in die Adria (über den Ticino, und den Po) fliessen. Am Pass Lunghin in Graubünden kann ein Regentropfen in die Adria (über die Maira/Mera, Adda und den Po), in die Nordsee (über die Gelgia/Julia, dann in die Albula und den Rhein), über die Meise/Maas und Rhein) oder ins Schwarze Meer (über die En/den Inn und Donau) fliessen. Am Klepac/Maly Snieznik an der tschechisch/polnischen Grenze kann ein Regentropfen in die Nordsee (über die Orlice/Adler und Labe/Elbe), ins Schwarze Meer (über die Morava/March und die Donau) oder in die Ostsee (über die Nysa Klodzka und die Oder) fliessen.
3) Benno Gmür ist Vizepräsident des SBS-VR und war vor Andrea Ruf Geschäftsführer der SBS. Er wird ab dem 1. Mai ad interim den CEO-Job übernehmen. Er ist gleichzeitig auch Geschäftsleiter der HSB (Historische Schifffahrt Bodensee), ebenfalls ad interim.
5) Ein Triptychon ist lt. Google ein dreigeteiltes Gemälde oder eine dreiteilige Relieftafel, die oft mit Scharnieren zum Aufklappen verbunden sind und sich insbesondere als Andachts- oder Altarbild finden.
6) Ihre Bilder entstanden mit einer extremen Langzeitbelichtung mit fast geschlossener Blende, was man auch am Strich der Sterne am Himmel erkennen kann. Während dieser langen Belichtungszeit wanderte Regina Hügli die Wasserscheide-Linie ab und beschien sie mit einer starken Taschenlampe. Da Hügli dunkel angezogen war und schnell lief, reichte die Foto-Sensibilität lichttechnisch nicht aus, um auch sie ins Bild zu bannen.
7) Wie kam Barbara Husar auf diese Idee des Kuheuters in der Luft? Gegenüber der Thurgauer Zeitung sagt sie am 22.4.22, die Idee ginge auf die Olma 2007 zurück: «Ich war begeistert von den vielen Kühen und wollte mich mehr mit diesen Tieren befassen.». Die erstmalige Inszenierung des EUTER-Ballons konnte sie dann 2018 bei einem Vorarlberger Festival unter dem Motto «Mensch und Rind» realisieren. Seither findet mit den Romanshorner Luftspielen die 16. Veranstaltung mit diesem Heissluftballon statt. Barbara Husar habe sich ganz bewusst für das Kuheuter entschieden. «Ich sehe den Euter als Symbol für Nachhaltigkeit und Wertewandel.» Hinzu komme, dass er sich bestens dafür eignet, abstrakte Begriffe sichtbar zu machen. Die Produktionskosten für den Heissluftballon sind dann allerdings sehr hoch ausgefallen. «So freue ich mich umso mehr, wenn das Kunstwerk gesehen wird und sich die Menschen daran erinnern, dass sie ein Teil der Natur sind», sagt Husar gegenüber der Thurgauer Zeitung.
Quellen
4) www.sharing-water.net
Impressum
Text H. Amstad
Bild 1 M. Fröhlich, Bild 2 R. Hügli, Bilder 3 und 4 H. Amstad, Bild 5 E. Bertsch, Bilder 6, 7 und im Textteil H. Amstad, Bild 8 J. Bösch
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