Nauenfahrt: eine literarische Annäherung an den Vierwaldstättersee mit der «Goliath».
Sibylle Severus liest an der heutigen Matinée auf MS Rigi im Rahmen von „kunstaheu“ unter anderem aus ihrem Roman Nauenfahrt. Die Schriftstellerin nähert sich darin an das Faszinierende des Vierwaldstättersees. Bevor sie Ausschnitte aus ihrem preisgekrönten Werk vorliest, erklärt sie uns den Werdegang der Geschichte: „Vier Erlebnisse verdichteten sich im Roman.“ Als die in Mittenwald/Oberbayern 1937 geborene Sibylle Obrist (mit Künstlername Severus) 1960 als gelernte Geigenbauerin nach Zürich zog, unternahm sie ihren ersten Ausflug nach Luzern. „Ohne grosse Vorbereitung bestieg ich ein Dampfschiff“. Sie war völlig perplex, wie viele Seen sich da für sie auftaten. „Es war wie in einem Kriminalroman – die vielen Seearme des Vierwaldstättersees als Basso contunio“. Im Roman kommt dieses Erlebnis wieder vor: „Werden die Nauen ein Ufer erreichen? Hinter den Buchten und Armen kommt zwar Land, doch bald taucht wieder ein anderer See auf. Die Schiffe bewegen sich von oben gesehen auf einer regelrechten Seenplatte, die nur von etwas Land dekoriert und unterbrochen ist.“
Ihr zweiter Zugang war eine Anfrage des damals jungen Fotografen Louis Brem aus Meggen, zu seinen Bildern Texte zu „komponieren“. Das führte zu einer Jahrzehnte langen Zusammenarbeit zwischen den beiden Kulturschaffenden und zur heutigen Lesung, da Brem mit einer Fotoausstellung über Venedigs Schiffe im vorderen Rigi-Salon vertreten ist. Bei der Ausstellung „Dokumenta Köln“ war es dann umgekehrt: er setzte Texte von Sibylle Severus bildlich um. Damit kam Sibylle Severus wieder regelmässig in Kontakt zum Vierwaldstättersee.
Eine dritte Annäherung an den künftigen Roman „Nauenfahrt“ war ein Stipendiumspreis der Stadt Zürich, sich einen Monat lang in Kastanienbaum eine Auszeit nehmen zu dürfen. „Oft bin ich am Ufer gestanden, jedes Mal sah ich eine andere Stimmung, eine andere Inszenierung – wie kann ich die Faszination Vierwaldstättersee einfangen, umsetzen, zeigen?“ fragte sich Severus. „Eines Nachts ist mir die Idee gekommen: nicht der See soll beschrieben werden sondern das, was drauf herumfährt.“ Es sollte einen Nauen sein. Die Wahl der „Goliath“ wurde von der Wabag Kies AG in Beckenried getroffen. Sybille Severus: „Ich war damals sehr erstaunt über die Grösse des Schiffes.“ Die Fahrt erfolgte in der ersten Hälfte des Februar 1995. „Wir fuhren nach Flüelen, luden Kies auf, und ich durfte wieder zurückfahren bis Beckenried.“
Das vierte Erlebnis war eine Beerdigung einer ihr Unbekannten namens Luise in Luzern. Ein Freund von ihr, namens Gerhard, wollte der Luise nach ihrem Tod zu ihrem Recht verhelfen. Die Biografie interessierte Sibylle Severus und sie begann zu recherchieren. Diese Lebensgeschichte bot nun den Inhalt des Romans – die Nauenfahrten den Rahmen. Sie nimmt im Roman Gerhard und manchmal auch Luise in Gedanken auf die Nauenfahrten mit und verwebt eigene, biografische Geschichten mit denen von Luise.
„Mein Nauen ist ein Lastschiff, achtunddreissig Meter lang und acht Meter breit. ‚Er’ heisst Goliath und hat eine Tragkraft von mehreren Hundert Tonnen. Unser eigenes Gewicht ist dagegen gar nichts; ein Vogelfederchen. Auf dem Ladedeck sind es vierzig Schritte vom Bug bis zum Steuerhaus. In ihm dreht der Schiffsführer Pius das hölzerne Rad von einem Meter Durchmesser. Der andere Teil der Mannschaft heisst Ruedi. Wir trinken manchmal etwas Heisses. In eine richtige Tasse Kaffee gehört hier ein nicht zu kleiner Schluck Schnaps. Das wärmt den Menschen von innen, macht ihn gefeit gegen den kalten Fahrtwind.“ Die „Golliath“ ist einer der schillerndsten und zugleich der grösste Flachdecknauen auf dem See. Er wurde 1929 von der Kalk- und Steinfabrik AG Beckenried bei der Waser Werft in Stansstad in Auftrag gegeben. Angetrieben wurde das Schiff durch einen 3‑Zylinder Sulzer Dieselmotor mit 75 PS.
„Die Baggerstation im See, auf die wir zusteuern, reisst im Sturmwetter an ihren fünf tonnenschweren Ankern wie ein Ozeanschiff… Früher waren die Nauen aus Holz. Goliath auch. Dreissig Jahre später wurde er mit einer Stahlkonstruktion versehen. Gesunken ist er trotzdem. Menschliches Versagen, ein Ladefenster war offen geblieben. Der Föhn – immer der Föhn, der ‚graue Talvogt’ – hatte unbemerkt Wasser ins Schiff gedrückt, bis es über Deck schoss und der schwere Goliath rasch sank. Der Nauen wurde geborgen und wieder flottgemacht. Seither zieht er friedlich zwischen den Buchten hin und her, mit und ohne Luise, mit und ohne mir.“
Das war 1945 im Hafen von Flüelen. Der Nauenexperte Rolf Gwerder erklärt, wie es zu diesem Zwischenfall kommen konnte: „Der Nauen Goliath hatte eine Ladung Sand vom Bagger in Flüelen nach Beckenried zu fahren. Normalerweise transportierte er aber Produkte der Kalk- und Steinfabrik Beckenried, Kalkprodukte also mit einem kleineren spezifischen Gewicht als jenes von Sand und Kies. Da nun aber die obersten Planken des Nauens in der Regel eben nicht im Wasser lagen, drang nun Wasser ins Schiff ein, als man dieses bis zur Tiefladelinie lud. Die Besatzung bemerkte das eindringende Wasser und fuhr eiligst in den Hafen von Flüelen zurück, um ein grösseres Unglück zu verhindern. Die eindringende Wassermenge war grösser als die Kapazität der Lenzpumpe und so geschah es, dass die ‚Goliath’ sank. Die Erzählung vom Föhn ist mir so nicht bekannt. Ich kann mir aber vorstellen, dass wegen dem Föhn durch die hohe Lufttemperatur und die niedrige Luftfeuchtigkeit der Holzrumpf ‚verlächnet’° war“. Der Nauen wird gehoben und versieht weiterhin seinen Dienst.
Am 23. Februar 1952 stösst um 10.13 Uhr die „Goliath“ beim Meggenhorn mit MS Mythen zusammen. Der Nauen wartete bei dichtem Nebel nicht wie üblich am Ufer, bis das DGV-Schiff von Kurs 8 vorbeifuhr. Beim Nauen entstand kein Schaden, der Bug der “Mythen“ hingegen wurde stark beschädigt*. 1958 bekommt LMS Goliath eine Eisenschale. 1963 sinkt die „Goliath“ erneut, dieses Mal beim ungleichmässigen Beladen mit Kalktanks in Beckenried. Es drang Seewasser durch die Fenster des Motorenraumes ein und der Nauen sank innert weniger Minuten**. 2013 erhält der Nauen ein neues Steuerhaus und eine Neumotorisierung (6‑Zylinder MAN mit 300 PS).
„Wir luden also an der Seebaggerstation Sand und Kies. Von einem riesigen Greifer wird das Material aus über Hundert Metern Tiefe herausgeholt. Gestein aus der Eiszeit. Hugo hatte mir jedes Detail der komplizierten Anlage gezeigt, auch die aus dem Geschiebe gewachsenen Holzstückchen, die vielleicht Jahrtausende alt sind.“***
So präsentiert sich das bald 90-jährige Lastschiff heutzutage.
Am von Severus geschilderten Baggerschiff in der Risleten sind die Nauen Mars, Neptun und Goliath (v.l.n.r.) geladen zur Abfahrt bereit.
Die „Goliath“ macht Werbung für die grösste Leinwand der Schweiz vom Imax im Verkehrshaus.
Ein aussergewöhnlicher Transport: Nauen Goliath bringt eine DC 3 nach Luzern.
Vollgeladen mit Produkten der Kalkfabrik Beckenried.
In den Anfangsjahren war das Be- und Entladen schwerste Handarbeit, hier in Flüelen (rechts mit MS Reuss).
Durch Klick aufs Bild erscheint dieses im Grossformat.
Hinweise
°) „Verlächnen“ heisst: das Holz der Seitenwände zieht sich bei grosser Hitze ein wenig zusammen und durch die entstandenen Ritzen dringt Wasser in den Schiffsrumpf ein.
*) Heinz Schürmann „Schiffsunglücke auf dem Vierwaldstättersee 1766 – 1984“
**) Rolf Gwerder „Goliath – der grösste Flachdecknauen auf dem Vierwaldstättersee“ 2013 (detaillierte Darstellung der Geschichte des LMS Goliath ist in diesem Fotoband nachzulesen, erhältlich bei Schiffs-Agentur (Link).
***) Die im Bericht zitierten Stellen sind kursiv dargestellt und erschienen in: Sybille Severus „Nauenfahrt Roman“ Innsbruck 1997, ISBN 3−7066−2151−7
Quellen
Bilder 2 – 7 Archiv R. Gwerder,
Text und Bild 1 H. Amstad.
Leave A Comment