Von Island über Hel­go­land ins Zuger­land: Chris­to­pher Lehm­pfuhl auf MS Schwan

Unspek­ta­ku­lär, beschei­den und ohne Star­al­lü­ren. Er fährt mit sei­nem Kas­ten­wa­gen vor und trägt 140 mal 120 cm grosse, noch weisse Lein­wände auf MS Schwan. Ich möchte ihm beim Tra­gen der 5‑Li­ter-Farb­kü­bel hel­fen, doch er winkt ab: behut­sam sta­pelt er 12 Farb­kü­bel auf eine Sack­karre – ein Kübel wiegt 15 kg. Bis am Abend sind nahezu 60 Liter Ölfar­ben auf 6 Land­schafts­bil­dern zum Thema Zuger­see ver­ar­bei­tet. An Bord der „Schwan“: einer der zur­zeit gefrag­tes­ten Kunst­ma­ler Euro­pas, Chris­to­pher Lehm­pfuhl. Seine momen­tane Aus­stel­lung „Farb­rausch“ im Schloss Got­torf in Schles­wig ist ein abso­lu­ter Ren­ner. Eine Retro­per­spek­tive aus sei­nen 25 Schaf­fens­jah­ren zei­gen 160 Werke.

Chris­to­pher Lehm­pfuhl trifft mit sei­nen ein­fühl­sa­men Inter­pre­ta­tio­nen von Land­schaft, Far­ben und Stim­mun­gen einen Nerv der Zeit. Die an die­sem Tag ver­ant­wort­li­che Schiffs­füh­re­rin Zanny Zaum berich­tet: „Bemer­kens­wert ist die Fülle an Gerät­schaf­ten, die auf dem foli­en­über­spann­ten Deck von MS Schwan lagern. Dar­un­ter etli­che Kes­sel Ölfarbe, eine Sack­karre, Lein­wände, Arbeits­hand­schuhe, Rahm­kirsch­torte … Keine Pin­sel».

Mit einer Leich­tig­keit son­der­glei­chen und einem uner­hör­ten Blick aufs Essen­ti­elle bringt Lehm­pfuhl von diver­sen, vor­be­rei­te­ten Farb­hau­fen die Ölfar­ben von Hand direkt auf die Lein­wand. Dort model­liert er sie zu einem reli­ef­ar­ti­gen und skulpt­ur­haf­ten Gemälde, das in der Nähe als abs­trak­tes Bild­mo­tiv kaum inter­pre­tier­bar ist, aber bereits nach weni­gen Metern Distanz eine inten­sive plas­ti­sche Drei­di­men­sio­na­li­tät einer Land­schaft her­vor­zau­bert, die etwas Genia­les aus­strahlt. Zanny: „Seine Schöp­fung von Wol­ken ist hör­bar. Schlag für Schlag «don­nern» die Far­ben auf die Lein­wand und erzeu­gen einen leich­ten Auf­prall. Mit sei­nen Fin­gern formt er Kon­tu­ren in die zen­ti­me­ter­di­cke Farb­schicht. Unter Lärm klatscht ein wei­te­rer Wirr­warr an Far­ben auf die Flä­che. Chris­to­pher Lehm­pfuhl «model­liert dar­aus Häu­ser, Bäume, Türme, Was­ser, Wolken.»

In jedem Fall malt er stets draus­sen und hält nichts von foto­gra­fi­schen Zwi­schen­pro­duk­ten. Ob es minus 20 Grad ist wie im Enga­din 2015 oder bei Sturm und Regen auf Hel­go­land 2014 oder in einem ver­lo­sche­nen Island­kra­ter 2016: nur das ganz­heit­li­che Erleb­nis ermög­licht ihm diese inten­sive Umset­zung auf die Lein­wand. Zu ver­dan­ken ist diese span­nende Begeg­nung Urs Reich­lin, einem Küss­nach­ter Gale­ris­ten, der vor 5 Jah­ren vom Fuss der Rigi in seine Geburts­stadt Zug zurück­ge­kehrt ist. Reich­lin: „Als Zuger-See­mann kenne ich die Per­spek­tive der See­sicht bes­tens. Diese Sicht­weise ist in der klas­si­schen Land­schafts­ma­le­rei jedoch prak­tisch inexis­tent und schon gar nicht bei Plein-Air-Malern. So ent­stand die Idee, Kunst­samm­lern aus der Region Zug einen beson­de­ren Lecker­bis­sen zu offerieren.»

Das Gelb fehlt

«Ich werde nie see­krank und habe schon bei einem Orkan auf Hel­go­land gemalt» ver­si­chert Chris­to­pher mit Blick auf die Wind­pro­gnose. Unter inzwi­schen auf­ge­hell­tem Him­mel fährt das Trio Lehmpfuhl/​Zaum/​Reichlin am Pfingst­sams­tag früh los und hält Aus­schau nach pas­sen­den Sujets. Die Zuger Kata­stro­phen­bucht mit dem Spring­brun­nen hat’s dem bald 50-jäh­ri­gen Ber­li­ner Maler gleich ange­tan. Das Heck der «Schwan» zeigt auf das gelbe Casi­no­ge­bäude am Ufer. Die erste Lein­wand lehnt bereits an der Reling. Sie bean­sprucht das halbe Ach­ter­deck. Farb­ei­mer gesel­len sich dazu, hau­fen­weise Ölfarbe von bes­ter Qua­li­tät neben der Lein­wand bereit­ge­stellt. «Das gibt’s doch nicht! Das ist mir noch nie pas­siert», ruft Chris­to­pher Lehm­phuhl in die kühle Mor­gen­stim­mung hin­aus: «Ich habe kein Gelb dabei!» Die Schiffs­füh­re­rin: «So haben wir die mal­wür­dige Sil­hou­ette von Zug ver­las­sen, dre­hen zum Anle­gen eine halbe Pirou­ette und bun­kern einen gan­zen Kübel gelbe Farbe – ein Vor­rat, der für die Reno­va­tion eines Post­au­tos rei­chen könnte.»

Reich­lin beob­ach­tet gespannt: «Ein Griff ins Blau, ein Klatsch im Sound einer Ohr­feige und schon sitzt der erste Strich im Him­mel der Lein­wand. Ein zwei­ter Schlag mit Weiss, gefolgt von einem Schwarz, hier ist ein ‘Bild­hauer’ im wahrs­ten Sinne des Wor­tes am Werk. Der Hori­zont sitzt, vom Him­mel geht’s über die Land­schaft und die Stadt dem See ent­ge­gen. Jeder Fin­ger­strich sitzt – Vor­zeich­nen? Fehl­an­zeige! – Hier ist ein Meis­ter am Werk. Schon wäh­rend dem Malen der See­bucht schweift sein Blick immer wie­der der Rigi zu. Kaum sind die bei­den ers­ten Werke erschaf­fen schäumt die Bug­welle des Schif­fes erneut auf, dies­mal Kurs Rigi ‘gerade vor­aus’.» Genau über der tiefs­ten Stelle des Zuger­sees machen sie Halt. Der Wind frischt etwas auf. In ele­gan­ter Schräg­lage pfei­len die Hoch­leis­tungs­jach­ten einer Segel­re­gatta laut­los an ihnen vorbei.

Zaum: «Auf gesta­pel­ten Farb­kü­beln sit­zend lässt Chris­to­pher seine Hand in die depo­nier­ten Farb­hau­fen zu sei­nen Füs­sen sin­ken und streicht sie innig auf dem Lei­nen­weiss und auch auf sei­nen Klei­dern ab. Unser Schiff düm­pelt für zwei wei­tere Stun­den brav vor dem Ufer. Plötz­lich macht der Him­mel über uns Platz für Blau. Tie­fer greift die Hand des Malers in die Farb­hau­fen.» Und Reich­lin ergänzt: „Das ist ein Hap­pe­ning, eine Per­for­mance und gleich­zei­tig Lehm­pfuhls ganz nor­male Arbeits­weise.“ Das Schiff nimmt nun Kurs Rich­tung Ober­see. Zanny Zaum: «Vor uns bäumt sich die Rigi-Nord­wand auf. Chris­to­pher baut sie nach. Abwech­selnd schlägt und strei­chelt er seine Far­ben. Die Pro­ze­dur wie­der­holt sich, aber seine Hand greift immer schnel­ler in die Farb­hau­fen vor der Lein­wand. Gip­fel aus Schnee ragen in die gemal­ten Wol­ken. Das Dorf Arth erhält sei­nen Kirch­turm.» Reich­lin: «Das Kur­schiff Zug begrüsst uns mit einem Hor­nen und schwupp ist auch die­ses auf der Lein­wand festgehalten.»

Vor­freude auf die Vernissage

Die Sonne liegt schon weit im Wes­ten, als MS Schwan das letzte Sujet anpeilt. «Das Berg­mas­siv da hin­ten» müsse er unbe­dingt noch fest­hal­ten, meint Chris­to­pher Lehm­pfuhl. Gemeint ist der Pila­tus. Lang­sam über den See tuckernd fin­det das Team vor Risch die rich­tige Lage. «Zum letz­ten Mal gibt’s Haue für die übrig geblie­bene Lein­wand,» bewun­dert der Gale­rist die Schaf­fens­kraft des Künst­lers. Das Schiff legt gegen Abend wie­der in Zug an. Mehr als 60 Kilo­gramm Farbe wurde auf Lein­wand gebracht und diese gilt es nun im Hafen zu löschen.

Die ein­drück­li­chen Momente einer unver­gess­li­chen Schiff­fahrt sind nun im Lie­fer­wa­gen ver­staut, wer­den in der Gale­rie zum Trock­nen gela­gert und Ende August allen begeis­ter­ten See­män­nern und ‑frauen anläss­lich der Aus­stel­lung in der Gale­rie Urs Reich­lin in Zug zur freien Besich­ti­gung zugäng­lich sein. Hat der Gale­rist schon einen Aus­stel­lungs­ti­tel? «Land in Sicht auf MS Schwan» wäre eine Möglichkeit.

Chris­to­pher Lehm­phuhl arbei­tet hoch­kon­zen­triert und lässt sich nur kurz durch unsere Foto­gra­fin und Schiffs­füh­re­rin ablenken.

Alle seine Bil­der ent­ste­hen heute im Heck von MS Schwan; win­dige Lau­nen des Wet­ters gleicht Zanny Zaum am Steuer des Schif­fes aus, damit der Blick­win­kel erhal­ten bleibt.

Schöpft aus dem Vol­len, sowohl von Hand wie von sei­nem Können.

Ein kri­ti­scher Blick des Künst­lers, doch Aus­sen­ste­hende erken­nen ihn sofort: die cha­rak­ter­star­ken Struk­tu­ren des Pilatus.

Der Salon der „Schwan“ füllt sich mit kost­ba­ren Kunstwerken.

Schwer bela­den sind die Lein­wände und wer­den nun zum Aus­trock­nen meh­rere Monate gelagert.

Bil­der im Text­teil: Nach geta­ner Arbeit gibt’s ein Sel­fie mit zufrie­de­nen Gesich­tern: Gale­rist Urs Reich­lin, Kunst­ma­ler Chris­to­pher Lehm­phuhl und Schiffs­füh­re­rin Zanny Zaum, die nun nach einem ergeb­nis­rei­chen Tag „adieu“ winkt (2. Bild).

Durch Klick aufs Bild erscheint die­ses im Grossformat.

Am Schluss des Blogs ist Ihr Kom­men­tar willkommen.

Wei­ter im Text

Film über Lehm­pfuhls Schaf­fen auf Hel­go­land (Link)

Film über das Malen von Chris­to­pher Lem­phuhl auf Island (Link)

Buch „Farb Rausch“, Michael Imhof Ver­lag, Peters­berg 2021 ISBN 978−3−7319−1073−2

Impres­sum

Bil­der 1, 5, und 6 Z. Zaum, übrige Bil­der U. Reich­lin, Text H. Amstad

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